München – Der Türöffner für die Ermittler, die Mitte Februar das Erzbischöfliche Palais, den Amtssitz von Kardinal Reinhard Marx in München, durchsucht haben, war „Fall 26“. Damit, so berichtet es die „SZ“, hat die Staatsanwaltschaft einen richterlichen Durchsuchungsbefehl erwirkt. Staatliche Ermittler fahren bei der Kirche vor. Ein Einsatz, der bundesweit Beachtung findet – vor allem bei Missbrauchsopfern und Kirchenrechtlern.
Es ist nicht viel bekannt über die Razzia. Das Erzbistum äußerte sich auch am Montag nicht, die Staatsanwaltschaft sagt nichts zu laufenden Verfahren. Aber „Fall 26“ ist einer von vielen, die die Anwälte der Kanzlei „Westpfahl Spilker Wastl“ im Missbrauchsgutachten des Erzbistums von 2022 aufgelistet haben. Und hinter „Fall 26“ stehen viele, sehr viele Opfer. Schon in den 1960er-Jahren wurde der Priester aus der Erzdiözese wegen Missbrauchs verurteilt. Wegen so vieler Fälle, dass sich laut Gericht damals „nicht mehr klären ließ, an welchem Tag und in welchem Monat sie sich ereignet haben“. Die Opfer: zehn bis 13 Jahre alt. In Haft wollte er seinen Beruf aufgeben – doch ein Kirchenoberer versprach ihm eine Stelle weit genug von seinen bisherigen Einsatzorten, damit nicht „die blödsinnigsten und simpelsten Indiskretionen ihm die Wirkungsmöglichkeiten am neuen Einsatzort von vorn herein nehmen“. Er wurde Krankenhausseelsorger und vier Jahrzehnte später kamen wieder Vorwürfe auf – der Priester soll Krankenhaus-Ministranten Zugang zu seiner Privatsauna gewährt haben und mit ihnen in den Urlaub gefahren sein. Er wurde schließlich Ruhestandspriester im Ort des Krankenhauses, obwohl der Ortspfarrer entschieden dagegen war.
Irgendwann bat der Priester darum, wieder eine Messe zelebrieren zu dürfen. Das wurde ihm erlaubt, mit dem Hinweis, dass es nicht empfehlenswert sei, „dass Sie in der Krankenhauskapelle zelebrieren. Dies ist kein Verbot, aber eine Frage der Klugheit“. Erst nach einer anonymen Beschwerde kam es laut Gutachten erstmals zu einer kirchenrechtlichen Prüfung des Falls. Eine Fachreferentin stellte fest, dass die Personalakte des Priesters unvollständig war und wesentliche Unterlagen zu den Vorwürfen aus den 2000er-Jahren fehlten. Dann wurde der Fall zu den Akten gelegt. Der Priester ist inzwischen verstorben.
Wieder einmal zeigt ein Fall, dass die Kirche Missbrauch unter den Tisch gekehrt hat und weitere Opfer leiden mussten. Das war, sagt Kirchenrechtler Professor Thomas Schüller aus Münster, systematisch möglich, weil die Strafverfolgungsbehörden eine „Beißhemmung“ gegenüber der Kirche haben. Doch offenbar tut sich in diesem Kräfteverhältnis etwas. Nach der Razzia in München spricht Schüller von einer „Zeitenwende im Verhältnis von staatlicher Justiz und den Kirchen“. Er sagt auch, dass es „längst überfällig sei, dass bei einem begründeten Anfangsverdacht ermittelt wird – so wie das auch bei Wirtschaftsstraftaten geschieht“. Es könne nicht sein, dass die Kirche vom Rechtsstaat ausgenommen wird.
Bei der Durchsuchung wurde nichts gefunden, auch nicht der sogenannte Giftschrank. Darin sollen frühere Verantwortliche Unterlagen zu Missbrauch eingeschlossen haben. Doch es wird angenommen, dass der Druck auf mitschuldige Kirchenobere steigt. Schüller lobt explizit Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) für sein Durchgreifen – auch wenn der sagt: „Durchsuchungen sind kein politisches Signal. Ich hatte daran keinen Anteil. Die Staatsanwaltschaften in Bayern wenden Recht und Gesetz an.“ Nach Darstellung des Justizministeriums war die Durchsuchungsaktion auch nicht die erste bei der Kirche: Seit 2017 habe es im Freistaat 39 Durchsuchungen bei Geistlichen und Kirchenangehörigen gegeben. Eisenreich sagt aber auch, dass das frühere Gutachten aus dem Jahr 2010 für die Erzdiözese früher angefordert hätte werden müssen.
Das fordern Opferverbände längst. Von einem „dringend notwendigen Eingreifen“ spricht der Dachauer Christian Wiesner von „Wir sind Kirche“. Sein Münchner Mitstreiter Edgar Büttner sagt: „Die Kirchen haben viel zu lange versucht, alles kirchenintern selber zu regeln. Damit haben sie immer wieder Täter geschützt und vor allem weitere Verbrechen ermöglicht.“