„Wie geht es euch?“, frage ich. „Alles gut, bei uns ist es ruhig“, antwortet mein Vater. Das ist seit einem Jahr der Anfang jedes Gesprächs mit meinen Eltern. In letzter Zeit gab es in meiner Heimatregion weniger Beschuss. Doch manchmal kann „ruhig“ bedeuten, dass von 80 Raketen, die auf die Ukraine abgefeuert wurden, mehrere über unserer Gegend abgeschossen wurden und meine Eltern Explosionen in der Ferne hören konnten. So geschehen letzte Woche. Meine Patentante wohnt im 8. Stock am Stadtrand. Die Druckwelle sei so stark gewesen, dass die Türen und Fenster ihrer Wohnung klapperten. In dieser Nacht erreichte sie meine Eltern nicht und wollte mit mir sprechen. Ich war schon eingeschlafen und habe ihren Anruf verpasst. Generell telefonieren wir selten miteinander. Wie verängstigt muss sie gewesen sein, dass sie um drei Uhr morgens versuchte, mich zu erreichen, obwohl sie wusste, dass ich so weit weg bin und ihr nicht helfen konnte. Aber für meinen Vater gilt das alles als „ruhig“.
In dieser Woche wurden zum ersten Mal während des Krieges in unserer Stadt die Straßenlaternen eingeschaltet. Meine Mutter machte ein Foto von der beleuchteten Straße und schickte es glücklich an alle ihre Freunde. Keine Verdunkelungsmaßnahmen mehr. Die Ausgangssperre wurde reduziert und man muss nur noch von 12 Uhr nachts bis 5 Uhr morgens zu Hause sein. Meine Eltern fingen wieder an, gelegentlich aus der Stadt zu unserem Ferienhaus an der Schwarzmeerküste zu reisen. Dort ist es jetzt menschenleer. Die Strände sind für Touristen gesperrt. Das wirkt sich positiv auf die Natur aus. An den Stränden gibt es nun mehr Pflanzen und Tiere.
Kaum zu glauben, dass ich nun seit über einem Jahr in München lebe. Das letzte Jahr war für mich geprägt von extremen Gegensätzen: Trauer und Freude, Wut und Dankbarkeit, Sorgen und Sicherheitsgefühl. Aber die Liebe zu München und seinen Bewohnern blieb unverändert. Jeden Tag habe ich die Möglichkeit, so viele neue Erfahrungen zu machen. Ich war kürzlich in Garmisch-Partenkirchen und bin zum ersten Mal Snowboard gefahren. Mir hat es so viel Spaß gemacht. Ich genieße die Gewaltigkeit der Berge und die grenzenlose Schneelandschaft. Ich habe auch eine neue Ausstellung in der Kunsthalle München besucht, die die Rolle von Blumen im Leben und in der Kultur zeigt.
Je glücklicher ich werde in dieser Stadt voller Möglichkeiten und Freude, desto stärker werden das Schuldgefühl und der Wunsch, andere zu unterstützen. Ich habe schon einmal der Münchner Tafel bei der Kauf-1-Mehr-Aktion geholfen, also habe ich mich wieder gemeldet. Diesmal verteilte ich Lebensmittel für bedürftige Münchner und Flüchtlinge im Westend. Am Ende des Tages fühlte ich mich wirklich glücklich. Jetzt will ich mich regelmäßig ehrenamtlich engagieren. Es gibt nichts wertvolleres als Zeit. Und noch schöner ist es, wenn man sie dafür einsetzt, anderen zu helfen.