„Wir sollten die Zeit als Freundin sehen“

von Redaktion

INTERVIEW ZUR ZEITUMSTELLUNG Ein Zeitberater erklärt, warum wir Uhren manchmal überbewerten

Dieses Wochenende wird die Uhr eine Stunde vorgestellt. Viele Menschen bringt das zweimal jährlich aus dem Takt. Jonas Geißler (43) aus München ist Zeitberater, Zeitforscher, Buchautor und Coach – er hat ein paar Tipps gegen Zeitdruck im Alltag und den Mini-Jetlag, den viele am Sonntag spüren werden.

Tragen Sie eine Uhr?

Nein. Das ist eine bewusste Entscheidung. Ich will die Uhrzeit nicht leicht zugänglich haben. Natürlich gibt es in meinem Umfeld aber Uhren, an denen ich mich orientieren kann. Aber auch mein Handy nutze ich nur eingeschränkt, zum Beispiel nicht für Social Media oder für E-Mails. Ich profitiere jeden Tag davon, weil ich viel mehr ungestörte Zeit habe. Das nenne ich Zeit-Souveränität. Ich entscheide selbst, wie oft und wann ich mich mit Nachrichten befassen will.

Wie oft schauen Sie am Tag nach der Uhrzeit?

Wenn ich einen Termin habe oder wenn ich meine Kinder von der Schule abholen muss. Man muss sich fragen, wann Pünktlichkeit nötig ist und wann nicht. Manchmal ist es viel besser, im Fluss der Zeit zu sein, statt auf Pünktlichkeit zu achten. Die Zeiten, die im Leben zählen, sind die, die wir nicht zählen.

Haben wir verlernt, auf unsere innere Uhr zu hören?

In der Schule lernen wir schon, uns der Uhrzeit zu unterwerfen. Dabei verlernen wir, die Zeit als Freundin zu sehen. Sie auf uns zukommen zu lassen, statt zu versuchen, sie zu kontrollieren. Ich versuche, positiv auf die Zeit zu blicken. Sie vergeht im gleichen Maß, wie sie entsteht. Zeit ist doch etwas Schönes, sie gehört zum Leben. Aber durch unser Bemühen, immer effizienter zu werden und mehr in den Tag zu packen, entwickeln wir ein aggressives Verhalten gegenüber der Zeit. Das ist schade. Irgendwann ist alles gemanagt, aber die Lebensqualität, die Freude und der Spaß bleiben auf der Strecke.

Haben Uhren Rhythmus in unser Leben gebracht oder uns das Gespür für unseren eigenen Rhythmus genommen?

Die Uhren haben den Takt gebracht. Das ist aber ein totes Zeitmuster – immer gleich, ohne Abweichungen. Alles Lebendige hat einen Rhythmus, der abweicht. Das Herz schlägt nicht ganz regelmäßig, auch bei den Jahreszeiten gibt es Abweichungen. Wir sind Lebewesen – also sollten wir die Vertaktung nicht übertreiben. Ich will nicht sagen, dass ohne Uhren alles besser war. Sie haben einen großen Teil des Wohlstands in unser Leben gebracht, weil wir durch sie Zeit in Geld verrechnen können. Aber wir verlieren durch sie auch manchmal den Kontakt zu unserem Rhythmus und damit zur Natur.

Als Zeitberater haben Sie sicher Tipps, wie wir unseren eigenen Rhythmus besser wahrnehmen?

Natürlich, ich gebe zum Beispiel Tipps für fokussiertes, störungsfreies Arbeiten. Dafür muss man auf alles verzichten, was Aufmerksamkeit kapert. Es kann zum Beispiel helfen, das Handy auf Flugmodus zu stellen. Ein weiterer Rat wäre, abends nicht mit einem Schuldgefühl ins Bett zu gehen. Wir haben oft das Gefühl, wir könnten mehr reinpacken in den Tag, noch produktiver sein. Meistens sehen wir abends nur das, was wir nicht geschafft haben. Wir sollten uns eher auf das konzentrieren, was gelungen ist – und selbstbewusst schlafen gehen.

Geraten auch Sie als Profi ab und zu unter Zeitdruck?

Natürlich, das ist völlig normal. Wir dürfen nicht immer den Anspruch haben, dass alles perfekt läuft. Man kann nicht alles kontrollieren. Wenn ich von dem, was ich mir vornehme, 80 Prozent schaffe, ist das eine gute Bilanz. Die letzten 20 Prozent kosten Kraft und haben viel Frustpotenzial. Die würde ich lieber wegschnaufen. Es gibt natürlich Schwerwiegendes, was man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Aber ich erlebe oft, dass Menschen ihrem tägliches Tun zu viel Bedeutung aufladen. Ab und zu sollte man sich das ein bisschen zurechtrücken.

Warum sind Pausen oder Ruhezeiten so wichtig?

Im Gehirn laufen im Schlaf wichtige Prozesse ab: verarbeiten, lernen. So was passiert auch beim Abwarten, Schlendern oder Dösen. Wenn man kreativ tätig ist, braucht man Zeitoasen. Unser Gehirn spielt uns dann neue Ideen und Impulse zu. Diese Phasen sind auch wichtig, um Abstand zu den Dingen zu gewinnen. Nach einem Spaziergang sieht die Welt oft schon ganz anders aus. Selbst der erfolgreiche Unternehmer Warren Buffett hat in seinem Kalender nur wenige Termine pro Woche stehen. Den Rest der Zeit denkt er nach, um kluge Entscheidungen zu treffen.

Die Pandemie hatte für viele eine entschleunigende Wirkung. Hat sie unser Zeitgefühl verändert?

Die Corona-Zeit hat für viele neue Zeiterfahrungen ermöglicht oder erzwungen. Für die einen wurde es noch stressiger. Andere hatten auf einmal sehr viel freie Zeit. Manche Leute fingen wieder an spazieren zu gehen, um des Spazierens willen. Das Schlendern hat eine Renaissance erlebt.

Geht uns das jetzt wieder verloren?

Manchmal durch den Druck, den wir uns selbst machen. In der Berufswelt gilt leider oft: Du bist nur ein guter Mitarbeiter, wenn du keine Zeit hast. Wenn jemand zu viel Zeit hat, ist das verdächtig. Das führt dazu, dass Leute künstlich Zeitdruck erzeugen, um zu beweisen, dass sie gute Mitarbeiter sind.

Wieso verändert sich unser Zeitgefühl mit steigendem Alter?

Das liegt daran, dass die erlebte Zeit immer in Relation zu den gelebten Jahren gesehen wird. Wenn man fünf ist, dauert es ewig, bis wieder Weihnachten ist. Wir haben das Gefühl, die Zeit vergeht langsamer, wenn wir neue Erfahrungen machen. Es reicht oft schon, mal auf einem neuen Weg in die Arbeit zu gehen oder die Perspektive auf etwas zu verändern.

Wenn die Uhr umgestellt wird, haben wir das Gefühl, aus dem Takt zu geraten. Wie können wir diesen Mini-Jetlag abfangen?

Die Uhren werden immer von Samstag auf Sonntag umgestellt. Eine Möglichkeit wäre, zwei Schritte daraus zu machen. Also Sonntag erst mal eine halbe Stunde früher aufzustehen und am Montag noch mal eine halbe Stunde. Genervt sind wir von der Zeitumstellung im Frühjahr vor allem morgens, wie Umfragen zeigen. Befragt man die Leute abends, finden sie es nicht mehr so schlimm – auch weil es länger hell ist. Auch dabei hilft also der Blick auf die positiven Seiten. Ich habe schulpflichtige Kinder und weiß jetzt schon, dass wir Montagfrüh alle etwas müder sein werden als sonst. Aber ich rege mich einfach nicht drüber auf.

Interview: Katrin Woitsch

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