München – Julia Vogt-Selmayr hat vor einiger Zeit auf ihrem Speicher gewühlt und war froh, dass sich dort so viele Unterlagen stapeln. Die könnten bares Geld für die Landwirtin bedeuten. Die 53-Jährige, die mit ihrem Sohn einen Ackerbaubetrieb bei Hallbergmoos im Kreis Freising führt, braucht die alten Rechnungen, um sich einer Sammelklage anzuschließen. Es geht um Geld, das sie zu viel für Pflanzenschutzmittel bezahlt hat, weil Großhändler Preise abgesprochen haben.
Die Schuldfrage ist bereits geklärt: Das Bundeskartellamt hat 2020 Bußgelder über 154,6 Millionen Euro gegen sieben Großhändler von Pflanzenschutzmitteln verhängt, unter anderem gegen die BayWa AG München. Die ist Europas größter Agrarhändler und muss alleine 69 Millionen Euro bezahlen. Seit 1998 bis zum Zeitpunkt der Durchsuchung im März 2015 hatten die Unternehmen jeweils im Frühjahr und Herbst ihre Preislisten für Pflanzenschutzmittel abgestimmt. Zum Schaden der Kunden.
Julia Vogt-Selmayr sagt: „Auf so was wäre ich ja nie gekommen.“ Sie baut auf den Äckern des Schlossguts Erching, das seit 125 Jahren in Besitz ihrer Familie ist, Weizen, Getreide, Gerste, Hafer, Zuckerrüben, Sojabohnen und Mais an. Im Jahr gibt sie zwischen 10 000 bis 20 000 Euro für Pflanzenschutzmittel aus. Wie viel sie durch die Absprachen zu viel bezahlt hat, weiß sie nicht. Aber sie hat beschlossen, dass sie sich das nicht gefallen lässt. Und damit ist sie eine von bislang knapp 2600 Landwirten in Deutschland, die sich der Sammelklage anschließen. Weil sich das vor allem für Bauern mit eher großen Betrieben lohnt, kommen viele aus dem Flächenstaat Bayern.
Sammelklagen kennt man bisher eher aus den USA. Durch europarechtliche Veränderungen gibt es die Möglichkeit inzwischen auch in Deutschland. Klageführerin im Fall des Pflanzenschutzkartells ist die Unilegion GmbH mit Sitz in München. Geschäftsführerin Katharina Fröhlich sagt: „Wir arbeiten seit eineinhalb Jahren mit der gesamten Firma an dem Fall.“
Eine Sammelklage funktioniert so: Betroffene Landwirte schließen einen Vertrag mit der Unilegion GmbH ab. Dadurch geben sie den Auftrag, den Prozess für sie zu führen. Außerdem müssen sie mit Rechnungen oder Notizen nachweisen, wie viel sie für die Pflanzenschutzmittel in den Jahren 2007 bis 2015 bezahlt haben. Ob auch aus früheren Jahren, bis 1998, Ansprüche bestehen, wird laut Unilegion noch geprüft.
Für die Bauern entstehen keine Kosten. Unilegion finanziert sich über einen britischen Prozessfinanzierer (Augusta Ventures). Hat die Klage Erfolg, werden von dem erstrittenen Geld erst die Gerichts- und Verfahrenskosten bezahlt, dann erhält die Unilegion 20 bis 30 Prozent Provision – der Rest wird auf die Bauern verteilt. „Wir gehen davon aus, dass der Landwirt 10 bis 20 Prozent seiner Kosten für Pflanzenschutzmittel zurückbekommt. Plus Zinsen“, sagt Katharina Fröhlich. Sie rechnet mit 50 bis 80 Millionen Euro Schadenersatz. Im Fall einer Niederlage trägt Unilegion das Kostenrisiko.
Der Bayerische Bauernverband hält eine Sammelklage für ein „geeignetes Instrument, um deutlich unterschiedliche Kräfteverhältnisse der Parteien vor Gericht auszugleichen“. Der Verband klingt aber nicht euphorisch, was die Gewinnchancen angeht – die Klage von gegen das Zuckerkartell etwa habe nicht zu Schadenersatzzahlungen an Abnehmer geführt.
Die Unilegion GmbH wirbt schon seit einiger Zeit um die Landwirte, hat versucht, mit Infoveranstaltungen Ängste und Sorgen zu nehmen. Eigentlich wäre am 31. März die Anmeldefrist ausgelaufen – doch weil sich das mit der Sammelklage herumgesprochen hat und sich allein im Monat März 600 Bauern angeschlossen haben, wurde die Frist bis 15. Mai verlängert. „Je mehr, desto besser“, sagt Fröhlich. Dann verteilen sich die Prozesskosten auf mehr Schultern. Bislang hat Unilegion noch keine Sammelklage gewonnen. Die Erfolgsaussichten im Verfahren gegen das Lkw-Kartell (u.a. MAN, Scania, Daimler), das in den Niederlanden verhandelt wird, sind laut Fröhlich gut.
Die Klage für die Landwirte wird an einem Landgericht in Deutschland eingereicht – wo, entscheiden die Anwälte, die für Unilegion den Prozess führen. Das Ganze wird sich hinziehen, solche Verfahren sind langwierig. Und: „Ich rechne nicht mit Reichtümern“, sagt Julia Vogt-Selmayr. „Aber es geht ums Prinzip.“