Geschenkte Zeit zum Lebensende

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

München – Felicitas Kobus hat sich für die Pflege entschieden, weil sie für andere Menschen da sein will. Doch oft kämpfen sie und ihre Kollegen im Alltag gegen die Zeit.

Es gab viele Tage, an denen ihr das Herz blutete, weil die Personalnot wieder so groß war, dass für mehr als ein mitfühlendes Lächeln keine Zeit blieb. Sie weiß, wie wichtig es ist, sich hin und wieder zu jemandem zu setzen, zuzuhören oder stillen Beistand zu leisten. Besonders dann, wenn nicht mehr viel Lebenszeit bleibt. Deshalb hat sich die 34-Jährige im April vergangenen Jahres entschieden, Teil eines bayernweiten Projekts zu werden.

Es heißt ZIB – das steht für zeitintensive Betreuung im Pflegeheim. Pflegekräfte arbeiten dabei jeden Monat ein paar Stunden mehr – als Sterbebegleiter. Sie werden dafür als Palliativ-Fachkräfte ausgebildet und für diese zusätzlichen Stunden extra bezahlt. Angestellt werden sie dafür auf geringfügiger Basis von Hospizvereinen, die sich an dem Projekt beteiligen. Die Personalkosten werden von Fördergeldern der Paula-Kubitschek-Vogel-Stiftung, der Stiftung Zukunft Mensch und der Otto Diegel Stifung getragen. Das bayerische Gesundheitsministerium steuert für das Projekt weitere 200 000 Euro bei. In den Dienstplänen ihrer Heime werden die Pflegekräfte dann für 20 Stunden pro Monat nur für die Betreuung schwerstkranker oder sterbender Menschen eingesetzt. Diese 20 Stunden arbeiten sie zusätzlich. Deshalb ist das Projekt vor allem für Teilzeit-Kräfte interessant.

Felicitas Kobus ist alleinerziehende Mutter zweier Töchter. Sie arbeitet nun fünf Stunden pro Woche mehr im Pflegeheim in Kraiburg im Landkreis Mühldorf. Und diese zusätzliche Zeit verbringt sie bei den Sterbenden. „Ich gehe wieder zufriedener nach Hause, seit ich das mache“, erzählt sie. Weil sie mit ihrer Berufswahl Menschen helfen wollte und nun das Gefühl hat, dass sie dafür endlich genug Zeit bekommt. Sie ist nicht nur für die Menschen da, denen nicht mehr viel Zeit bleibt – sondern auch für deren Angehörige. Neulich hat sie mit einer Sterbenden ihre Lieblingsmusik gehört, Lieder von Freddy Quinn. Mit einem anderen Bewohner hat sie gemeinsam Kreuzworträtsel gelöst. Er hatte das immer geliebt, schaffte es aber nicht mehr allein. Andere begleitet sie in den Garten, wenn es ihr Wunsch ist, noch einmal in der Natur zu sein.

Das Projekt lief vorerst ein Jahr, von Herbst 2021 bis Herbst 2022, soll aber in einem Monat fortgesetzt werden. Denn eine Begleitstudie belegt den Erfolg. Die Zahl der Menschen, die die letzten Tage ihres Lebens im Krankenhaus verbracht haben, ist deutlich gesunken. „Im Projektzeitraum sind 93,5 Prozent der Palliativpatienten in ihrer gewohnten Umgebung im Pflegeheim gestorben“, berichtet Anne Rademacher, Geschäftsführerin der Paula-Kubitschek-Vogel-Stiftung. Vor drei Jahren lag der Anteil noch bei 66,2 Prozent. Durch die zusätzliche Zeit, die die Pflegekräfte für Sterbende bekommen, sei die Palliativversorgung in den Heimen viel besser geworden. Laut Studie waren sowohl die Bewohner als auch deren Angehörige mit der Versorgung sehr zufrieden. Und bei den Pflegekräften wuchs die Arbeitszufriedenheit. Felicitas Kobus bestätigt das. „Ich bin früher so oft frustriert nach Hause gegangen“, sagt sie. Das habe sich durch das Projekt geändert.

Wann das Projekt in ihrem Heim fortgesetzt wird, ist noch unklar. In München geht es in drei Pflegeheimen bereits im Mai weiter, wie Barbara Mallmann berichtet. Sie ist Geschäftsführerin und leitende Koordinatorin im Hospizverein Ramersdorf-Perlach und hat das vergangene Projektjahr als Palliativ-Trainerin begleitet. Sieben Pflegekräfte haben sich bereits für das neue Projekt gemeldet. Es war nicht schwer, sie dafür zu gewinnen, berichtet Mallmann. Eine der ZIB-Kräfte sagte zu ihr vor Kurzem einen Satz, über den sie noch oft nachgedacht hat: „Endlich kann ich das tun, wofür ich einst angetreten bin.“ Mallmann hat keine Zweifel, dass das Projekt immer weiter wachsen wird.

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