Das Wirtshaus, das allen gehört

von Redaktion

VON DORIT CASPARY

Übersee – Der Lieblingsplatz der Gschwendner-Buam Benedikt (33) und Vincent (31) im Wirtshaus ist die Schenke. So wie schon vor 20 Jahren, als die Brüder noch ein umgedrehtes Biertragerl brauchten, um an den Zapfhahn zu kommen. Die beiden sind in der Feldwies im Chiemgau aufgewachsen. Zwangsläufig. Denn ihr Vater Wolfgang Gschwendner hatte 2002 die Idee, das Wirtshaus in seinem Geburtsort zu retten. Viel zu viele Jahre war es schon leer gestanden, verfiel mehr und mehr. Kapital für die Sanierung gab es nicht. „Die Feldwies war in meiner Jugend der Treffpunkt, so was gibt man nicht einfach auf“, sagt Wolfgang Gschwendner.

Der Anwalt entwickelte eine Idee zur Rettung und gründete mit anderen Wirtshausliebhabern eine Konzeptgruppe. Die Gemeinde wurde überzeugt, das Wirtshaus samt des 3400 Quadratmeter großen Grundes für 400 000 Euro zu erwerben. Die wiederum erklärte sich bereit, die Feldwies an eine zum Zweck der Wirtshauserhaltung und -sanierung gegründete Aktiengesellschaft zu verpachten. Gschwendner und Unternehmer Herbert Graus kamen mit ihrer Idee, das Geld für die Sanierung des Hauses über den Verkauf von Aktien zu finanzieren, bei der Kommune an. Dazu sollte die Feldwies als Wirtshaus, aber auch als Heimat für die örtlichen Vereine da sein. Ein Treffpunkt für den ganzen Ort eben. So wie seit 1554, als das Haus erstmals urkundlich erwähnt wurde.

Immer wieder hatte das Feldwieser Wirtshaus in Übersee mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Im Jahr 1813 hatte der Wirt eine Bierschuld von 2600 Flaschen an den Brauer Danile Dumbser zu Frauenchiemsee zu entrichten. Das war mehr, als ein großer Bauernhof wert war. Damals kam die Rettung mit dem Bau der Eisenbahn von München nach Salzburg und der damit verbundenen Belebung. Nicht alle Feldwieser brachen in Begeisterung über die Veränderungen aus. Daran hat sich über die Jahrhunderte wenig geändert. Denn auch 2002 waren nicht alle von der Initiative von Gschwendner und Graus begeistert. Warum sollte die Gemeinde gerade ein einzelnes Wirtshaus kaufen, wo es doch genug Lokale gab? Die Kritiker waren aber schnell verstummt, als die ersten Aktien à 100 Euro innerhalb kürzester Zeit verkauft waren. Als jeden Tag der halbe Ort auf der Baustelle erschien, um in Eigenleistung die Feldwies wieder zu neuem Leben zu erwecken. „So einen Spirit, so ein Gemeinschaftserlebnis gibt es nur einmal“, erinnert sich Wolfgang Gschwendner.

Für ihre neue zweite Heimat packten 2003 alle mit an – für die Wirtshausgäste, für die Trachtler, die im Dachgeschoss ihren Raum haben, für die Theatergruppe, die die Bühne und den großen Saal nutzt. 14 000 ehrenamtliche Arbeitsstunden kamen zusammen, bis das Wirtshaus D’Feldwies 2004 eröffnet werden konnte. „Das war damals eine ganz besondere Stimmung, jeder war mit Begeisterung dabei und fragte: Was kann ich tun?“, erinnert sich Vincent Gschwendner. Er selbst klopfte als Bub den Putz im Flur ab. „Die Leute standen morgens einfach in der Stube. Und dann wurde gewerkelt. Innerhalb von Rekordzeiten war das Dach erneuert, die Küche geplant und umgebaut, aus der ehemaligen Metzgerei im Erdgeschoss eine weitere Gaststube entstanden“, erzählt Benedikt Gschwendner.

Die Aktien der Wirtshaus-AG sind trotz weiterer Neuauflagen schon lange vergriffen. Insgesamt 2750 Anteilsscheine wurden ausgegeben, sie sind im Besitz von knapp 2000 Aktionären. Die Warteliste ist lang. Inzwischen werden die Aktien nur noch vererbt, keiner gibt seinen Anteilsschein freiwillig zurück. Die meisten Besitzer kommen aus der Nachbarschaft. Ein paar Exoten gibt es aber auch. Aktionäre aus Norddeutschland, USA, Namibia, der Schweiz, Frankreich und Luxemburg. Einmal im Jahr treffen sich die Aktionäre zur Hauptversammlung. Immer am Josefitag. 2024 wird die Eröffnung vor 20 Jahren gefeiert. Und wie jedes Jahr die Dividende ausgezahlt. „So eine Rendite gibt’s nirgends. Für einen Anteilsschein in Höhe von 100 Euro wird ein ganzes Essen ausgezahlt, das sind rund 15 Prozent“, erklärt Aufsichtsratsvorsitzender Herbert Graus.

Seit einem Jahr sind nun die Gschwendner-Buam die Wirte in der Feldwies, nachdem die frühere Wirtin unter anderem wegen Corona aufgehört hatte. „Wir wollten in jedem Fall vermeiden, dass das Wirtshaus wieder länger leer steht“, sagt Graus. Vincent besitzt zehn Jahre Erfahrung in der Gastronomie, betreibt unter anderem den Hafenwirt in Seebruck, sein Bruder Benedikt hat die Anwaltskanzlei des Vaters übernommen und kennt D’Feldwies wie seine Westentasche. Sie verbindet mit dem Wirtshaus eine große Liebe. Für Benedikt ist es immer noch eine Riesenfreude, bei Festen am Zapfhahn zu stehen. Dass die Gschwendner-Buam Pächter der AG sind, macht für sie kaum einen Unterschied. Allerdings sind bei großen Veränderungen Vorstand und Aufsichtsrat, dem inzwischen der Überseer Bürgermeister Herbert Strauch angehört, verantwortlich für die Entscheidungen. Ob im Wirtshaus zum Beispiel Pommes auf die Speisekarte kommen könnten – was aber alle kategorisch ausschließen –, entscheiden der Vorstand und Aufsichtsrat und nicht die Wirte. Herbert Graus sagt: „Es wäre schön, wenn das Wirtshaus nicht nur als ältestes im gesamten Chiemgau erwähnt wird, sondern auch als erfolgreichste Naturalien-AG mit Bratkartoffeln statt Pommes auf dem Teller.“

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