Dachau – Stefan Diesenbacher könnte nicht mal schätzen, wie viele Tage in seinem Leben er in Krankenhäusern verbracht hat. Oder mit starken Schmerzen. Sie gehören schon immer zu seinem Leben. Der 40-jährige Dachauer leidet an Spina bifida, einer angeborenen Körperbehinderung, die auch „offener Rücken“ genannt wird. Es handelt sich dabei um eine Fehlbildung der Wirbelsäule und oft auch des Rückenmarks, die sich während der Schwangerschaft entwickelt. Immer wieder wurden in Diesenbachers Leben die Schmerzen so schlimm, dass sie ohne Morphium nicht mehr auszuhalten waren. Immer wieder musste er operiert werden.
Trotzdem schaffte er es, eine Ausbildung als Erzieher in einem Kindergarten abzuschließen – das ist sein Traumberuf. Und eigentlich ein Beruf, für den dringend junge Menschen gesucht werden. Doch schon als es um das Anerkennungsjahr ging, bekam es Diesenbacher mit vielen Zweiflern zu tun. „Ich habe keine Stelle gefunden, weil ich im Rollstuhl sitze“, erzählt er. Er könne so die Aufsichtspflicht nicht erfüllen und kein Vorbild für die Kinder sein – das waren die Begründungen in den Absagen. Diese Worte taten weh. Und sie machte Stefan Diesenbacher wütend. Er überlegte zu klagen. „Aber dafür hatte ich nicht genug Kraft“, sagt er. Also studierte er soziale Arbeit – bis die Schmerzen wieder schlimmer wurden. Der Dachauer musste in den folgenden Jahren wieder operiert werden und viele Krankenhausaufenthalte hinter sich bringen.
Seinen Traum, irgendwann als Erzieher arbeiten zu dürfen, hat er nicht aufgegeben. 2015 wurde er Wirklichkeit. Die Leiterin des Kindergartens in Röhrmoos hatte keine Bedenken, dass Diesenbacher auch im Rollstuhl ein sehr guter Erzieher sein würde. Sie stellte ihn für 20 Stunden pro Woche ein. Als die Personalnot größer wurde, stockte Diesenbacher sogar zeitweise um zehn Stunden auf. Weder mit der Aufsichtspflicht, noch mit den Kindern gab es Probleme, erzählt er. Sie gingen mit der Erkrankung ganz natürlich um, stellten Fragen. Er erklärte ihnen, dass seine Beine zu schwach seien – danach war es kein Thema mehr, dass er im Rollstuhl sitzt. „Der Job hat mir so viel Kraft gegeben“, erzählt er und lächelt. Doch wie immer in Diesenbachers Leben dauerte es nicht lange, dann gingen wieder die Probleme los.
Anfangs hatte er einen Fahrdienst, der ihn von Dachau ins zehn Kilometer entfernte Röhrmoos brachte. Als er 2021 wieder in die Schmerzklinik musste, wurde ihm geraten, Erwerbsminderungsrente zu beantragen. Er musste seine Stundenzahl im Kindergarten reduzieren. Die Erwerbsminderungsrente bekam er – doch der Fahrdienst wurde danach nicht mehr gezahlt. Dagegen klagt Diesenbacher. Doch das ist langwierig – und nervenaufreibend. Er und seine Mutter heften alle Widersprüche und Bescheide in einem blauen Ordner ab. Er ist inzwischen prall gefüllt. „Unser Anwalt sagt, es kann zwei Jahre dauern, bis es zur Verhandlung kommt“, sagt Margot Diesenbacher. Sie ist 70 und fährt ihren Sohn nun in die Arbeit. Denn schon der Kopfsteinpflaster-Weg zum Bahnhof wäre für ihn im Rollstuhl eine Herausforderung. Vom Bahnhof in Röhrmoos müsste er anderthalb Kilometer bis zum Kindergarten schaffen. Ohne die Hilfe seiner Mutter ist sein Arbeitsweg unmöglich geworden.
Während er auf die Verhandlung wartet, kam ein weiteres Problem dazu: eine Verletzung in der Schulter. Deshalb bräuchte er einen Elektro-Rollstuhl, der ihn unterstützt, wenn er mit Muskelkraft nicht mehr weiterkommt. Doch die Barmer bewilligte nur einen kompletten Elektro-Rollstuhl oder eine Antriebsunterstützung. Diesenbacher musste erneut Widerspruch einreichen. Er legte zwei Atteste bei, die bescheinigten, dass er diesen Spezialrollstuhl braucht, damit seine Muskelkraft in den Armen erhalten bleibt. Erst dann kam die Zusage – doch wieder konnte er sich nicht lange darüber freuen. Denn das Sanitätshaus, das den Rollstuhl in seinem Namen beantragt, hatte den Antrag nur für Räder und Antrieb ausgestellt. Diesenbacher bräuchte aber einen ganz neuen Rollstuhl, seiner ist fünf Jahre alt und für die Aufrüstung nicht mehr geeignet. Wieder müssen er und seine Mutter telefonieren, erklären – und auf eine Zusage hoffen. „Uns geht die Kraft aus“, sagt Margot Diesenbacher verzweifelt. Sie kämpft seit 40 Jahren dafür, dass ihr Sohn ein eigenständiges Leben führen darf. „Wir wollen doch einfach nur die Hilfe, die er dafür braucht.“
Im Rollstuhl sei er kein Vorbild für Kinder, sagten sie
Auf jede gute Nachricht folgt eine Enttäuschung