Bayerns Schäfer plagen Zukunftssorgen

von Redaktion

VON THOMAS JENSEN

Rothenbuch – Klemens Ross weiß, wie es ist, Schafe zu verlieren. „Sie sind nicht einfach nur Nutztiere. Dass es ihnen gut geht, ist das Wichtigste.“ Ein früher Nachmittag im Mai: Fast sechshundert Tiere liegen oder stehen vor ihm dicht gedrängt auf der Wiese. Der 60-Jährige lehnt mit dem Rücken am Ende eines wanderstockähnlichen Stabes, der im Boden steckt. Sein Gesicht unter dem Hut ist braun gebrannt, die Jacke aufgeknöpft.

Ross ist Schäfer in sechster Generation, er betreibt die Schafhütehaltung. Das heißt, er hütet seine Herde jeden Tag, früh bis spät. Im Schutz gegen den Wolf wird diese Hütung als die sicherste angesehen – ist jedoch die Ausnahme. Auf den Almen und Weiden Bayerns werden die Schafe meist nicht ganztägig betreut, stattdessen wird täglich nach ihnen gesehen. Mit seinen Hunden führt Ross die Schafe zwischen Frühling und Herbst über die Wiesen des Spessarts. Abends treibt er sie in den Pferch, ein Flecken Wiese, den er jedes Mal wieder neu einzäunt. Auch den Winter verbringt er bei den Tieren, dann kommen im Stall die Lämmer auf die Welt. „Der Job geht vom ersten Januar bis 31. Dezember. Den Urlaub aus 46 Jahren habe ich mir bisher aufgespart. Die nehme ich dann bei Petrus“, sagt er und lacht.

Der Betriebssitz ist in Lonnerstadt im Kreis Erlangen-Höchstadt. Auf dem Weg dorthin legt er ab September tageweise bis zu zehn Kilometer zurück mit der Herde. Im Sommer führt er die Schafe über die Flur von Rothenbuch, ein Dorf im Landkreis Aschaffenburg. Hier weidet seine Herde gerade. Ringsum erhebt sich wellenartig der Wald. Die Alpen und Voralpen mit dem Ärger um den Wolf sind weit weg – aber nicht in seinen Gedanken.

In der Debatte um den Wolf gebe es nur schwarz und weiß, sagt Ross. Naturschützer würden die Probleme zu sehr ignorieren, aber auch aktuelle Wahlkampfversprechungen zur Wolfentnahme, die womöglich gegen EU-Recht verstoßen, seien nicht nach seinem Geschmack. Er selbst würde sich einen Konsens wünschen, der ein Leben mit dem Wolf ermöglicht: „Aber so wie es läuft, verliert erst die Weidetierhaltung und später, wenn irgendwann zu viel passiert ist, der Wolf.“

Die Debatte habe sogar den Berufsstand entzweit sagt Ross, der als stellvertretender Vorsitzender des Verbandes bayerischer Berufsschäfer viel Kontakt zu Kollegen hat: „Früher sind wir immer zu Kompromissen gekommen. Beim Wolf ist das schwerer.“

Kollegen hat er immer weniger – nicht mal mehr 100 hauptberufliche Schäfer gibt es in Bayern. Auch er weiß nicht, wie lang es seinen Betrieb noch gibt. „Ob die Tochter weitermacht, ist nicht sicher“, erzählt er. Für ihn jedenfalls sind die Schafe sein Leben. Diese Bindung wird auch andersrum sichtbar. Plötzlich wird aus dem vereinzelten Mähen ein Kanon mit hunderten Stimmen. Anstatt auf den Boden zu blicken, richten sich über 600 Augenpaare auf Ross. „Ich habe gerade zwei Schritte gemacht. Mindestens eine hat mich immer im Auge und telefoniert durch, wenn ich mich bewege. Dann meinen sie es geht weiter“, erklärt er.

50 Prozent seines Einkommens bezieht er aus dem Verkauf von Wolle und Lammfleisch. Die andere Hälfte kommt vom Staat für die Beweidung schützenswerter Fläche. Hin und wieder telefoniert Ross, häufiger greift er in eine Innentasche seiner Camouflage-Jacke und zieht Tabak und Zigarettenpapier hervor. Der einzige Snack bis zum frühen Nachmittag: ein Apfel. „Das muss man können“, sagt er zum Schäferleben.

Die geringe Wertschätzung des Berufs stört ihn. In den 70er-Jahren habe es für ein Kilo Lammfleisch noch fünf Mark gegeben. Mit der Inflation müssten es nun etwa genauso viel Euro geben, rechnet er vor, stattdessen gebe es aber nur gut drei Euro. Dazu kommt die Angst vor dem Wolf. Im Spessart gibt es noch keine Rudel, bisher nur durchziehende einzelne Wölfe. Freiwillig verwendet Ross trotzdem 105 Zentimeter hohe statt wie mindestens vorgeschrieben 90 Zentimeter hohe Elektrozäune. „Aber noch mehr Maßnahmen würde ich nicht mittragen. Dann würde ich aufhören.“ 17 Jahre ist die Nacht nun her, die er nie vergessen wird. Mutmaßlich ein Hund war in den Pferch geraten, die Herde hatte in Panik den Zaun umgerannt und war auf eine Straße gelaufen. 17 Schafe starben und an zwei Autos entstand ein Sachschaden. „Bei so etwas suchen die Versicherungen lang“, sagt Ross: „Der Pferch war nicht wie vorgeschrieben 250 sondern 200 Meter weit weg von der Straße. An der Stelle wäre weiter weg aber auch gar nicht gegangen wegen dem Main.“ Eine Restschuld sei ihm angerechnet worden, er haftete für einen Teil des Schadens. „Seit tausenden Jahren gibt es die Schäferei. Sie wird sich so verändern, dass es sie weitergibt“, ist Ross sich sicher. Nur wie lange seine Schafe – von denen noch kein einziges von einem Wolf gerissen wurde – noch auf den Wiesen des Spessarts weiden, weiß er nicht.

„Die Wolfs-Debatte hat die Schäfer entzweit.“

„Die Schäferei wird es weiter geben.“

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