„Demenzkranke sind nicht geschützt“

von Redaktion

Hubert Sendls Schwester verschwand spurlos – er fordert Gesetzesänderung

Am 6. März 2021 verschwand Waltraud Resch spurlos aus einem Pflegeheim in Dießen am Ammersee. Die 74-Jährige hatte Demenz, sie war sehr verwirrt. Nach ihr wurde mit Hubschraubern und Polizeistaffeln gesucht – doch sie wurde nie mehr gefunden. Ihr Bruder kann bis heute nicht mit ihrem Verschwinden abschließen. Hubert Sendl (74) kämpft dafür, dass sich die Gesetzeslage ändert und Demenzkranke besser geschützt werden dürfen. Zum Beispiel durch GPS-Armbänder. Aktuell ist der Einsatz rechtlich knifflig. Die Ortung Demenzkranker mit diesen Armbändern ist zwar erlaubt, werden sie dann aber gegen ihren Willen zurückgebracht, gilt das als freiheitsentziehende Maßnahme. Und dann wäre auch die Ausstattung mit diesem Sender genehmigungsbedürftig. Hubert Sendl fordert, dass es Heimen und Angehörigen leichter gemacht wird, Demenzkranke vor dem Weglaufen zu schützen. Doch er findet kaum Gehör.

Vor zwei Jahren ist Ihre demenzkranke Schwester spurlos verschwunden. Wie häufig fragen Sie sich, was ihr zugestoßen ist?

Es vergeht selten ein Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke. Ihr Verschwinden ist für meine Familie immer sehr präsent. Es gibt nicht mal ein Grab, an dem wir trauern können. Manchmal zünde ich in der Kirche eine Kerze für sie an.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie Vermisstenmeldungen in den Nachrichten hören?

Das zeigt mir jedes Mal, wie groß das Problem ist. Demenzkranke sind nicht gut geschützt. Ich kann mich sehr gut in die Angehörigen hineinversetzen. Ich weiß genau, was sie durchmachen. Als damals Hubschrauber und Polizeistaffeln nach meiner Schwester gesucht haben, war ich erst so sicher, dass sie bald wieder da ist. Mit jeder Stunde ist die Angst größer geworden. Es waren schwere Stunden. Irgendwann habe ich nur noch gehofft, dass sie bei der Kälte einfach einschlafen durfte und nicht mehr aufgewacht ist. Dass sie Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, will ich mir nicht vorstellen.

Seit zwei Jahren kämpfen Sie dafür, dass die Suche nach Demenzkranken leichter wird. Was fordern Sie konkret?

Die Hürden, Demenzkranke mit GPS-Sendern auszustatten, müssen niedriger werden. Mit so einem Tracker könnten sie schneller gefunden werden. Bisher wird das aber als freiheitsentziehende Maßnahme gewertet. Dabei ist das doch zum Schutz der Menschen. Ein Betreuungsrichter kann so eine Maßnahme zwar genehmigen, aber die meisten Angehörigen kennen sich damit nicht aus. Wir wussten damals nicht, wie die Rechtslage ist, welche Möglichkeiten es gibt. Wir waren völlig überfordert. Es gibt viel zu wenig Unterstützung und Beratung für betroffene Familien. Und auch die Heime müssten meiner Meinung nach verpflichtet werden, mehr für den Schutz von Menschen zu tun, die aus Verwirrtheit weglaufen. Ich habe viele Briefe und Mails an Abgeordnete geschrieben, es fühlt sich an, als würde man mit diesem Thema gegen Mauern laufen. Die Einzige, die mir Unterstützung versprochen hat, war Ruth Waldmann von der SPD. Sie hat mir berichtet, dass nicht mal in Zahlen erfasst wird, wie viele demenzkranke Menschen verschwinden.

Was muss sich gesellschaftlich ändern?

Das Bewusstsein für dieses Problem. Meine Schwester ist noch in einer Bäckerei gewesen, bevor sich ihre Spur verloren hat. Wer einem verwirrten, älteren Menschen begegnet, muss Courage zeigen. Hätten die Menschen, denen meine Schwester begegnet ist, im nächsten Altenheim gefragt, ob jemand vermisst wird, wäre sie vielleicht heute noch am Leben.

Warum ist es so schwer, für das Thema Gehör zu finden?

Wenn ich das wüsste. Wenn ein Kind verschwindet, ist die Hölle los und die Betroffenheit ist riesengroß. Ich verstehe nicht, warum das bei alten Menschen nicht so ist. Meine Schwester war genauso hilflos wie ein Kind. Sie war verwirrt und orientierungslos und hatte keine Chance, ohne Hilfe zurückzufinden.

Wer spurlos verschwindet, wird erst nach fünf Jahren für tot erklärt. Hoffen Sie manchmal noch, dass Ihre Schwester gefunden wird?

Ich bin sicher, dass sie nicht mehr lebt. Aber ich hoffe, dass sie ohne Schmerzen und lange Leidenszeit sterben durfte. Die Vorstellung, dass sie gestürzt ist und mehrere Tage verletzt irgendwo lag, kann ich nicht ertragen.

Interview: Katrin Woitsch

Artikel 10 von 11