Neulich im Badezimmer: Ich greife zu einem der Pröbchen, die Kosmetikverkäuferinnen gerne mitgeben. Zu schade, um sie wegzuwerfen. Auf der Verpackung steht: „Dramatically Different Moisturizing Lotion“. Also eine Feuchtigkeitslotion, die dramatisch anders ist als alle anderen vermutlich. Unter dramatisch hatte ich mir allerdings immer etwas vorgestellt, das einen wirklich innerlich und äußerlich mitnimmt. Gesichtspflege war nicht dabei.
In einer Fernsehsendung, in der Kandidaten und Kandidatinnen mit ihren Kochkünsten gegeneinander antreten, ruft der Moderator zu Beginn ins Publikum: „Das ist eine fantastische Truppe, bei der alle großartig kochen! Sie werden in dieser Woche hervorragende Gerichte präsentieren!“ Die sechs Männer und Frauen haben zwar noch nichts vorgelegt, aber vielleicht hat der Moderator, der sie nicht näher kennt, hellseherische Fähigkeiten. „Traumatisch“ findet eine Bekannte, dass der Urlaubsflieger ausfällt und sie erst einen Tag später loskommt. „Sensationell“ dagegen ist die neue Bar, „mega“ der Film…
Übertreibungen sind ein Stilmittel, mit dem man hinweist auf das, was einem wichtig ist. Das Kosmetikprodukt soll gekauft werden – genauso wie die Sendung mit den Hobbyköchen. Manche Lebenssituationen sind großartig. Andere dagegen eher schrecklich und es braucht Mitgefühl. Übertreibungen sind eine rhetorische Figur. Vor allem aber sind sie sehr anstrengend. Wenn alles wirklich immer maximal sein muss, kommt man aus dem krampfigen Kampf um Superlative nicht mehr heraus. Oder man verliert sich in destruktiven, negativen Gefühlen: Kleine Misslichkeiten werden überbewertet. Schlimmer: Maßstäbe gehen verloren für das, was wirklich großartig oder außergewöhnlich gut und besonders traurig ist.
Die Freude am Normalen, Alltäglichen ist notwendig. Sie hilft, angemessen mit sich selbst und anderen umzugehen – freundlich, zufrieden und gelegentlich barmherzig. Sie lehrt, darauf zu achten, wann etwas nicht mehr das Übliche ist. Wann man Schönes hervorheben und genießen sollte. Und wenn Schreckliches bekämpft werden muss. Dramatisch anders. Ich denke in meinem Badezimmer an die Frauen im Münchner Obdach der Diakonie. Karla 53 heißt die Unterkunft, in der sie Zuflucht finden, bis sie neu aufbrechen können. Es wird höchste Zeit, dass ich wieder vorbeibringe, was ich teilen und hergeben kann. Selbst die vielen kleinen Kosmetikproben gehören dazu. Eigentlich ein Nichts. Aber zugleich ein Hauch von Normalität in einer extremen Situation. Die Ahnung, dass das Leben schön sein könnte – ganz ohne Ausschläge nach oben und vor allem nach tief unten.