„Hier bahnt sich ein Desaster an“

von Redaktion

VON DIRK WALTER

München – An einem lässt Markus Söder keinen Zweifel: Die 2. Stammstrecke sei „ein Jahrhundertbauwerk“. Dass der Bund Naturschutz den Bau stoppen wolle, halte er für „völlig unverantwortlich“, sagt er gleich zu Beginn seiner Vernehmung als Zeuge im Untersuchungsausschuss des Landtags.

Seit Monaten gehen die Abgeordneten der Frage nach, warum die Öffentlichkeit erst Mitte 2022 erfuhr, dass die Röhre mindestens sieben Milliarden Euro kosten wird und erst 2037 fertig wird. Intern, in der Staatskanzlei und im Verkehrsministerium, hatte sich diese Sachlage schon 2020 angekündigt.

Söder ist in der nun 19. Sitzung der letzte Zeuge. Über fünfeinhalb Stunden wird er befragt – doch die Antworten, die Söder in immer neuen Varianten liefert, sind stets gleichlautend: „Die Deutsche Bahn hat nicht geliefert“, so sagt es der Ministerpräsident schon in seinem Eingangs-Statement. Überhaupt hat Söder von dem Staatskonzern keine hohe Meinung. „Mein Eindruck, dass die Bahn nicht kontrollierbar ist.“

Die Befragung der Abgeordneten konzentriert sich auf die zweite Jahreshälfte 2020. Damals erfuhr das Bayerische Verkehrsministerium erstmals durch von außen zurate gezogene Experten, die den Bau begleiteten, von möglichen Verzögerungen und Kostensteigerungen. „Alarm“, notierte selbst die Amtschefin der Staatskanzlei damals auf einem Aktenstück. An anderer Stelle schrieb sie: „Hier bahnt sich ein größeres Desaster an“, man werde „systematisch für dumm verkauft“. Söder bestätigt dies. Es habe „Indizien“ gegeben, dass das Bauwerk aus dem Ruder lief. „Die Sorge war da, aber die Zahlen gab es nicht.“ Die lieferte die Bahn offiziell erst am 29. September 2022.

Mehrmals haken die Abgeordneten nach, warum Söder nicht früher auf Informationen gedrungen habe. Warum sei denn keine „Auskunftspflicht“ vereinbart worden, will der Abgeordnete Bernhard Pohl (FW) wissen. „Ich kann mich nicht erinnern, dass eine solche Diskussion geführt worden wäre“, antwortet Söder. Der Abgeordnete Martin Runge (Grüne) hält Söder einen Aktenvermerk vor, in dem ein Referatsleiter gleich zwei Mal, zuletzt am 23. Dezember 2020, eine „dilatorische (also hinhaltende – d. Red.) Behandlung“ empfahl. Denn die Stammstrecke sei „kein Gewinnerthema“. War sie Söder im beginnenden Bundestagswahlkampf unangenehm? „Das ist Quatsch“, sagt Söder. Er schiebt sich ein Stück Semmel in den Mund, fährt kauend fort: Die Vermerke des „sehr engagierten Mitarbeiters“ habe er nie gesehen. Er könne auch nicht alle Vorgänge kennen, auch nicht die vom „Herrn Ansgar Dingsbums“ – gemeint war ein Mitarbeiter des Bundesverkehrsministeriums.

Als der Abgeordnete Sebastian Körber (FDP) auf ein Treffen Söders mit dem damaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer am 30. November 2020 zu sprechen kommt, wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen – die Staatskanzlei hat den Aktenvermerk als geheim eingestuft.

Das ist rechtens, auch wenn nicht schlüssig ist, warum dies in diesem Fall erfolgte. Der Inhalt des Vermerks jedoch stellt sich nach Informationen unserer Zeitung so dar: Söder besprach mit seinem Parteifreund Scheuer am 30. November 2020 ab 11.30 Uhr mehrere Bahnthemen, auch die 2. Stammstrecke. Und wieder wird ein fast demonstratives Desinteresse Söders an „einer der größten architektonischen Herausforderungen unserer Zeit“ (O-Ton Söder gestern) erkennbar. Laut Aktenvermerk vom 1. Dezember 2020 notierte der Büroleiter des Staatskanzleiministers Florian Herrmann (CSU) über das Ergebnis des Gesprächs nämlich: „Man war sich einig, dass Ministerpräsident sich nicht äußern sollte. Man will das Ganze dilatorisch behandeln bis nach der Bundestagswahl.“ Söder sagt im nicht-öffentlichen Teil der Befragung dem Vernehmen nach, er habe an das Gespräch keine Erinnerung.

Der Ministerpräsident habe das Desaster jahrelang „vertuscht“, resümiert die SPD nach der Befragung. Jetzt ist der Untersuchungsausschuss fast zu Ende – es stehen nur noch die Abschlussberichte aus. Wahrscheinlich werden die CSU und die Landtagsopposition jeweils ihre Version präsentieren.

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