Das bayerische Kümmel-Experiment

von Redaktion

VON CORNELIA SCHRAMM

Mühldorf am Inn – Jakob Lipp steht hüfthoch in seinem Glück. Der 52-Jährige hat eine Vorliebe für ausgefallene Pflanzen – und Experimente. Hier auf seinem Feld im Kreis Mühldorf am Inn hat Lipp schon allerhand angebaut – etwa Leinsamen, Leindotter, Erbsen und blaue Lupinen. Sein neuestes Experiment konnten die Menschen in der Region schon vergangenen Sommer erschnuppern. „Der Duft des reifen Kümmels lag vor und nach der Ernte tagelang in der Luft“, schwärmt er. Diesen Juli steht seine zweite Kümmel-Ernte an.

Lipp stapft um sein 1,6 Hektar großes Feld. Wie abertausende weiße Wölkchen standen die Kümmelpflanzen gerade noch in voller Blüte. „Ende Mai sind sie gefühlt jeden Tag einen Zentimeter gewachsen“, sagt er. Fast einen Monat hat es nun aber kaum geregnet. Die saftig grünen Dolden trocknen aus und färben sich goldbraun.

In Asien, Indien, Pakistan, Ägypten und Osteuropa wird Kümmel sonst angebaut. Trotzdem ist das Gewürz in Brot, Krautsalat und Bratkartoffeln ein Klassiker der bayerischen Küche. „Früher ist Kümmel auch in Bayern angebaut worden, heute aber aus unserer Kulturlandschaft verschwunden“, sagt Lipp. „Das Gewürz aus dem Ausland zu importieren ist günstiger. Mich wundert aber, warum nicht mehr darauf geachtet wird, auch Gewürze regional anzubauen. Bei Milch, Mehl und Eiern wird es uns ja immer wichtiger.“

Lipp geht drei Schritte ins Feld, das am Westhang direkt vor seinem alten Bauernhaus liegt. Er zieht eine Kümmelpflanze heraus, muss sich dafür aber ziemlich gegen den Boden stemmen. „Dem Kümmel taugt es hier. Die Pflanze ist gut für unseren sandigen Lehmboden geeignet“, sagt er und deutet auf die starken Pfahlwurzeln. „Das Klima bei uns im Alpenvorland ist rau, aber der Tiefwurzler zieht sich die Mineralstoffe aus bis zu 70 Zentimeter Tiefe.“

Jakob Lipp hat zwar in Landsberg am Lech mal Pflanzenbau studiert, ist heute nach einem Marketing-Studium aber Autor und Experte für Kommunikation. Er hält Vorträge für Firmen – etwa darüber, dass es für Veränderungen Mut braucht. Und den hat er auch für sein Experiment gefasst. „Wirtschaftlich ist das nicht, was ich hier treibe“, sagt er und lacht. „Und ich bin ja weder Landwirt noch Hobby-Landwirt.“

Statt für tausende Euro in den Golfurlaub zu fliegen, liebt Lipp es, wenn es vor der Haustür blüht und summt. „Ich finde es schön zu wissen, dass der Boden 365 Tage lang genutzt wird. Nicht nur als Fläche, die Ertrag bringen muss, sondern auch als Lebensraum für Tiere. Die Pflanzen, die ich anbaue, lockern die Kulturlandschaft auf, und das fördert die Artenvielfalt.“ Einmal standen Millionen weiße Rettiche auf dem Hang – nicht zum Ernten, nur um den Boden zu lockern. Neben Kümmel hat Lipp auch Blühwiesen aus 41 verschiedenen Arten angesät. Platz dafür hat er. Die 25 Hektar haben seine Eltern früher als Milchviehbetrieb geführt.

Das Abenteuer Kümmel hat Lipp im Juni 2021 gestartet. Erst im darauffolgenden Jahr – im Juli 2022 – konnte er von der zweijährigen Gewürzpflanze zum ersten Mal Samen ernten. Bis dahin hat das Kümmel-Experiment immer mal wieder für Nervenkitzel gesorgt. Seine Nachbarn, darunter Landwirte, und die Leute im Ort haben die Köpfe geschüttelt. Nicht nur das Saatgut aus Österreich kostet Lipp Geld. Auch das Ausbringen, das Ernten per Mähdrescher sowie das Sieben und Trocknen der Samen – denn all das lässt Lipp machen. „Ich hätte gar nicht die Maschinen dafür.“

Kümmelsamen sind nur 0,5 bis 0,6 Millimeter dick. Das Saatgut musste mit einer Feinsämaschine auf das Feld gebracht werden. Dann hieß es warten. „Der Lichtkeimer hat etwa drei Wochen gebraucht, bis das erste Grün hervorgespitzt hat“, so Lipp. Nach der Blühphase im Mai und Juni waren die Pflanzen fast eineinhalb Meter hoch.

Dann die nächste Geduldsprobe: „Nach den ersten Nachtfrösten im Herbst legt sich die Kümmelpflanze um, zieht sich für drei Monate zurück und verschwindet wirklich komplett im Boden.“ Das wusste Lipp vorher, aber etwas mulmig war ihm im ersten Kümmel-Winter beim Blick aus dem Fenster schon. „Im Dezember hat man nichts mehr gesehen, da lag das Feld brach“, erinnert er sich und fasst sich noch immer ungläubig an den Kopf. Im März dann die Entwarnung: „Da hat er wieder ausgetrieben – alles war gut.“

Auch die erste Ernte war ein Abenteuer: Kümmelsamen sind genauso groß wie Gräsersamen und müssen penibel mit einem System aus verschiedenen Sieben gereinigt und sortiert werden. 1000 Samen entsprechen vier Gramm – sie sind ultraleicht. „Die Ernte muss also zum exakt richtigen Zeitpunkt passieren: in der ersten Tageshälfte, wo die Samen durch den Tau noch etwas schwerer, aber nicht mehr zu feucht sind“, sagt Lipp. Aber wann ist Kümmel überhaupt reif? Lipp greift einen Stängel und schüttelt ihn leicht: „Würden die Samen jetzt purzeln, müssten wir uns beeilen, damit der Wind sie nicht alle wegweht.“

Lipp hat vergangenes Jahr einige hundert Kilogramm Kümmel geerntet. „Vielleicht wird es dieses Jahr etwas mehr“, sagt er. Über die Drax Mühle im nahen Rechtmehring verkauft Lipp seinen Kümmel aus Oberbayern auch online. 250 Gramm kosten 5,95 Euro. Nach der Ernte hat es sich erst mal wieder ausgekümmelt. „Zur Fruchtfolge muss ich etwas anderes anpflanzen“, sagt Lipp und träumt schon vom nächsten Experiment – Senf.

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