München/Karlsruhe – Zwei Gerichtsverfahren überprüfen die Notengebung bei Schülern in Bayern, die von Legasthenie oder Rechenschwäche betroffen sind. Ein erster Prozess gestern vor dem Münchner Verwaltungsgericht endete mit einer Rücknahme der Klage durch eine ehemalige Schülerin. In einem zweiten Verfahren heute am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wird auch Kultusminister Michael Piazolo (FW) erwartet.
Bayern gewährt bei der Lese- und Rechtschreibschwäche einen Nachteilsausgleich bei der Notengebung. Schüler erhalten mehr Zeit, zum Teil wird die Rechtschreibung nicht gewertet. Einen ähnlichen Nachteilsausgleich gibt es aber bei Rechenschwäche – auch Dyskalkulie genannt – nicht. Eben dies wollten gestern Großvater, Sohn und Enkelin erstreiten. „Dyskalkulie ist eine Behinderung, die ausgeglichen werden musste“, sagte Jürgen Engelhardt (83) aus Stephanskirchen im Kreis Rosenheim, der für seine Enkelin vor Gericht zog. Maria (Name geändert) ist heute 24. Im Jahr 2020 war die Schülerin der Montessori-Schule München-Freiham an der FOS Oberschleißheim zum Abitur angetreten, letztlich jedoch in der Nachprüfung an Aufgaben in Physik gescheitert. Es gab keinen Nachteilsausgleich. Weder hatte sie mehr Zeit als andere Schüler noch sei ein Taschenrechner erlaubt worden, sagt Maria. Außerdem führte sie die Lernbedingungen in der Corona-Zeit an – der Fernunterricht klappte in der ersten Phase der Pandemie kaum, zudem war Mathe-Nachhilfe nicht möglich. Das ließ der Richter allerdings nicht gelten, da unter diesen Bedingungen ja alle Schüler zu leiden gehabt hätten. Dyskalkulie wiederum sei in Bayern nicht anerkannt. Im Juristendeutsch ausgedrückt: Es liege im Ermessen des Gesetzgebers, hier „rechtsgestaltend tätig zu werden“. Oder eben nicht: Bayern erkennt Dyskalkulie als Behinderung nicht an, weil dies wissenschaftlich nicht ausreichend geklärt sei. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie beklagt das seit Langem. „Dyskalkulie ist eine hirnfunktionale Störung“, sagte Sprecherin Annette Höinghaus unserer Zeitung. Die letzte Äußerung der Kultusministerkonferenz dazu stamme von 2007 – „das ist uralt“.
Der Bundesverband wird mit drei Vertretern auch heute in Karlsruhe erwartet. Dort verhandelt das Bundesverfassungsgericht die Klage von drei ehemaligen Abiturienten aus Bayern, die Zeugnisbemerkungen zu ihrer Legasthenie für diskriminierend halten. Die drei Männer aus dem Großraum München, die anonym bleiben wollen, hatten 2010 an verschiedenen Schulen ihr Abitur erworben und danach jahrelang prozessiert. Zunächst stand in ihrem Zeugnis sinngemäß, dass ihre Rechtschreibleistungen aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie nicht gewertet wurden. Der Hinweis auf fachärztlich testierte Legasthenie wurde nach längerem Gerichtsstreit getilgt, doch die Rechtschreibschwäche kann man ihren Zeugnissen trotzdem entnehmen, sagt ihr Münchner Anwalt Thomas Schneider. Er erhofft sich von dem Prozess „Signalwirkung“, sollte das Gericht nun jeden Hinweis auf fehlende Rechtschreibleistungen streichen.
Zunächst will sich Karlsruhe heute in einer mündlichen Verhandlung ein umfassendes Bild machen – Gegner der derzeitigen Regelung wie etwa Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind ebenso geladen wie Befürworter, darunter neben dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, auch Kultusminister Michael Piazolo (FW). Noten der Schüler im Abitur müssten vergleichbar sein, „diesen Zweck verfolgt die Zeugnisbemerkung“, sagte er vorab unserer Zeitung.
Im Münchner Fall nahm das Großvater-Sohn-Enkelin-Trio nach längerem Zuspruch durch den Richter die Klage wegen Aussichtslosigkeit zurück. Die kunstbegabte Maria ist über den Umweg der privaten „University of Western London“ längst Studentin und hat vor zwei Monaten ihren „Bachelor of arts“-Abschluss geschafft. Allerdings kostete das mehr als 20 000 Euro Studiengebühren. Bezahlt hat das ihr Opa.