Mittenwald – Er blutete an Knie und Kopf, war völlig durchnässt, schlotterte vor Kälte: Nur mit Glück und dank eines kundigen Bergführers entkam der SPD-Abgeordnete Wilhelm Hoegner, später Bayerns erster Ministerpräsident, 1933 auf einer abenteuerlichen Bergtour durchs Karwendel den Nazis. Sein Urenkel Ludwig Hoegner ist nun 90 Jahre später mit Christian Fischer, dem Enkel jenes Bergführers, und dem BR-Autor Georg Bayerle die damalige Fluchtroute nachgestiegen.
„Flucht vor Hitler“ heißt das Buch, in dem Hoegner 1977 der Bergtour ein eigenes Kapitel widmete. Nach der NS-„Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 hatte der Sozialdemokrat, damals schon Landtagsabgeordneter und prominenter Hitler-Widersacher, noch einige Monate in Bayern ausharren können. Im Juli aber verdichteten sich die Hinweise, dass er wie viele Bekannte vor ihm inhaftiert werden könnte. Er entschloss sich zur Flucht.
Am 11. Juli 1933 ging es mit dem Auto von München aus los. Über den Kesselberg gelangten Hoegner, Fischer und ein Begleiter, der sozialdemokratische Journalist Franz Blum, über Krün bis Mittenwald. Dann ging es zu Fuß weiter. Hoegner kannte die Gegend nicht sonderlich gut, in seinem Buch schreibt er von „einer Stelle, an der ein Fußweg in ein Gebirgstal führt“. Über den Ochsenboden ging es verdeckt bis an den Fuß eines „massiven Berges“, wie es in den Erinnerungen heißt. Rasch gewannen sie an Höhe – „unser Gemsenpfad führte aber bald seitwärts in den kantigen Fels“.
Jetzt nahm ihn sein Bergführer Hans Fischer, ebenfalls Sozialdemokrat und Mitglied bei den Naturfreunden, ans Seil. „Der erste Versuch, mich in der Hochtouristik zu betätigen, missglückte“, schreibt Hoegner. „Ich glitt aus, schwebte frei in der Luft und hatte mir ins nackte Knie noch eine blutende Wunde gerissen.“
Allmählich wurde er aber sicherer. Unten sieht er die Hochlandhütte, am Mast weht die Hakenkreuzfahne. Die Braunhemden sitzen auf der Terrasse. Die SA-Leute kontrollieren jeden, der vorbeikommt – aber Hoegner, der hoch über ihnen an einem Seil in der Felswand hängt, erkennen sie nicht. Die SA-Leute winken sogar. Sie halten das Trio für gewöhnliche Alpinisten. Alle drei grüßen brav zurück. Nichts passiert.
Gegen Spätnachmittag zieht ein Gewitter auf, als das Trio einen Felsgrat erreicht, der die Grenze zwischen Deutschland und Österreich bildet. „Schon sang mein eisenbeschlagener Bergstock“, schreibt Hoegner. Er warf ihn weg – nicht, dass noch der Blitz einschlägt. Dann bricht das Unwetter los. Mit dem Rücken pressen sie sich an den Berg. „Meine Lederhose war in kürzester Zeit durchweicht. Janker und Hemd schienen sich in Brei aufzulösen.“
Als das Unwetter abzieht, steigen die drei frohgemut ins Karwendeltal hinab. Erneut warten gefährliche Kletterpassagen, teils über schneebedeckte Hänge, auf sie, ehe die Bergsteiger über ein Kar das Tiroler Karwendeltal erreichen. Drei Stunden nach Mitternacht kommen sie im Bauernhaus eines „Tiroler Dorfes“ – gemeint ist Scharnitz – an. Heute weiß man: Es war der Gasthof zum Neuwirt, der damals laut Fischer von einem SPD-Mann geführt wurde.
Hoegner hat es geschafft. Die Flucht ins Ausland ist gelungen. Er wurde Sekretär der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs in Innsbruck, ehe er im Februar 1934 nach Beginn des Österreichischen Bürgerkriegs ins Exil in die Schweiz ging.
Welchen Gipfel er damals am 11. Juli 1933 überschritt, das konnte Hoegner nicht angeben. Eine Möglichkeit wäre die Wörnerspitze, da es dort ebenfalls eine Schlüsselstelle im zweiten Schwierigkeitsgrad gibt. Fischer, der ebenso wie der Begleiter Blum den Krieg überlebte und bis 1991 in Untermenzing lebte, nannte in späteren Erinnerungen den Aufstieg zur Tiefkarspitze (2431 Meter). Sie hat allerdings im Aufstieg einen Schwierigkeitsgrad bis III+, was Hoegner wohl nicht geschafft hätte. So bleibt als Möglichkeit auch der Wörner (2474 Meter), da es dort ebenfalls eine Schlüsselstelle, aber nur im zweiten Schwierigkeitsgrad, gibt. Über Schafssteige könnte das Trio zum Wörnersattel und von dort aus über den Wörner-Gipfel auf- und nach Tirol abgestiegen sein.
Im Gasthaus erhalten sie Glühwein. „Glücklich schlürften wir den heißen Trank“, schreibt Hoegner, „rissen die feuchten Fetzen vom Leib und legten uns hin. Meine letzten Gedanken vor dem Einschlafen galten dem schönen Österreich.“ J. HORNSTEINER/D. WALTER