Die Dame an der Supermarktkasse hat Mühe, ihre Augen zu öffnen. Schwer hängen die künstlichen Wimpern auf ihren Lidern. Es ist Mode geworden, den eigenen Blick durch zusätzliche geklebte oder magnetische Haarkränze eindrucksvoller zu gestalten. Viele junge Frauen machen sich die nicht unerhebliche Mühe, ihr Aussehen entsprechend zu verändern. Kürzlich stellte eine von ihnen auf Instagram fest, dass sie seit Langem zum ersten Mal ohne Zusatzhärchen aus dem Haus gegangen ist.
Immerhin hat sie in dieser herausfordernden und gefahrvollen Situation ihre Wimpern zur eigenen inneren Stärkung kräftig getuscht. Damit die Lesenden sich ein Urteil über die wichtige Frage bilden konnten, ob sie mit oder ohne künstliche Zusätze besser aussieht, stellte sie zwei Bilder von sich ins Netz. Ich selber hätte zum Vergleich gerne ein drittes Bild von der jungen Frau ohne jede Maskerade gesehen. Wie Frauen so sind – ich plauderte mit meiner Physiotherapeutin über meine zugegeben kritischen Beobachtungen.
Meine Physiotherapeutin ist Heilkünstlerin mit Sinn für eine ganzheitliche, gütige Sicht des Menschen. Obendrein sieht sie aus wie eine englische Lady. Selbstverständlich hat sie etwas zu sagen gehabt – nämlich, dass in ihrer Jugend künstliche Wimpern ebenfalls en vogue waren. Sie selber hat zwar keine getragen, dafür fehlte ihr das Geld, aber Filmstars dieser Zeit wie Marlene Dietrich und Ingrid Bergmann, so sagte sie, hätten durchaus mit melodramatischem Augenaufschlag begeistert.
Damit war ich erst mal in meiner Kritikaster-Haltung ordentlich eingenordet. Amüsiert erinnerte ich mich an meine Mutter, die mir im zarten Alter von 16 Jahren verbot, mich „anzumalen“ – das zieme sich nicht für ein „ordentliches“ Mädchen. Zu allen Zeiten gibt es Modeerscheinungen, die nicht allen gleichermaßen zusagen – und es auch nicht müssen. Es gibt auch keine Notwendigkeit, sich darüber zu erheben, weder in kleinen Wimpernfragen noch in anderen Angelegenheiten des Lebensstils.
Dennoch. Ein gewichtiges Dennoch. Wenn Style-Fragen bei Mädchen und Frauen absolute Priorität im Leben haben, ist das ein Verlust. Für sie selbst und für die Gesellschaft, der sie verlorengehen mit dem Wahn, nur an ihrem Aussehen arbeiten zu müssen. Es gibt weitaus mehr zu tun. Meine Physiotherapeutin weiß schöne Augen nach wie vor zu schätzen und versteht, sich elegant zu schminken. Sie hat ihr Leben lang dazu gelernt, sich unentwegt weitergebildet und ihre Persönlichkeit aufs Schönste entfaltet. Nach wie vor arbeitet und heilt sie. Mit 85 Jahren. Sie sollte Influencerin werden.