München – Die Bayern und ihr Bier, das ist wie König Ludwig und Neuschwanstein, wie Sissi und Franzl. Das gehört zusammen wie Weiß und Blau. Schon 1860 schrieb ein Amtsarzt aus Straubing an das Königlich-Bayerische Statistische Bureau: „Bier wird wirklich in großer Masse getrunken; Männer, Weiber, Kinder, alles trinkt gern Bier.“ Viel Liebe für das bayerischste Getränk aller Zeiten.
Aber im Bierland Bayern ist was im Umbruch. Immer mehr Brauereien entschärfen das Bier und damit auch den Rausch – alkoholfreies Bier ist auf dem Vormarsch. Der Brauerbund rechnet damit, dass schon bald jedes zehnte in Deutschland gebraute Bier alkoholfrei sein wird. Das ist doppelt so viel wie 2007. „Alkoholfreies Bier boomt nicht“, sagt Michael Schweinberger von der Brauerei Maisach im Kreis Fürstenfeldbruck – „die Nachfrage explodiert.“
Sogar bei Augustiner, der letzten großen Münchner Brauerei ohne Alkoholfreies, beugen sie sich dem Trend: „Selbstverständlich beschäftigen wir uns mit dem Thema des alkoholfreien Bieres“, sagt Geschäftsführer Martin Leibhard. Immer mehr Gastronomen und Biertrinker würden danach fragen.
Seit 1328 gibt es Augustiner – bald auch ohne Suri. Wann das promillefreie Bier auf den Markt kommt, ist unklar. Doch schon jetzt entbrennt ein Wettstreit: „Schneller als Augustiner: Giesinger Bräu bringt Mitte August alkoholfreies Bier heraus“, stand neulich auf der Internetseite der Brauerei, die es erst seit 18 Jahren gibt. „Immer mehr Menschen, gerade unter den jungen Leuten, greifen zum alkoholfreien Bier“, sagt Chef Steffen Marx. 38 000 Hektoliter Bier verkaufen die Giesinger im Jahr, ab 15. August stehen 2000 Hektoliter Alkoholfreies im Handel. Name: „Giesinger Freiheit“. Eigentlich war die Markteinführung erst nach der Wiesn geplant – in der „Detox-Phase“, wie sie sagen.
Wird aus Bayern, dem Land der Biertrinker, des Frühschoppens, des Wegbiers, der Feierabendhalbe das Land der Vernünftigen? Wird Bayern, wo einst angesoffene Ministerpräsidenten im Fernsehen auftraten (Strauß, 1987), zu einer Nation der Nüchternen?
Der Rausch spielt in Bayern schon immer eine große Rolle, im Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2016 („Bier“) gibt’s das Kapitel „Von Viechrausch und Bierherz“. Viechrausch, das war eine Stufe auf den sogenannten Rauschtafeln, die früher in vielen Wirtshäusern hingen, sagt Historiker Rainhard Riepertinger (66) vom Haus der bayerischen Geschichte. Stufenweise ertrank sich der Gast bierselige Herrlichkeit –beim „Räuscherl“ ging’s los, nötig waren dafür rund sieben Mass Bier. Die Gaudi endete allerspätestens beim „Saurausch“, für den man laut Taferl 25 Liter Bier trinken sollte. „Unmöglich“, sagt Historiker Riepertinger, das wäre wohl nicht zu trinken und von den meisten Wirtshaushockern auch nicht bezahlbar gewesen. Also waren die Tafeln einfach Gaudi, wie so vieles beim Rausch.
Denn wenn zum Beispiel ein Knecht an einem Kirchweihtag um die Jahrhundertwende „zwölf bis fünfzehn Mass Bier“ getrunken hat, dann war das natürlich überhaupt kein Problem, nicht einmal, wenn die Fröhlichkeit kippte und in einer Fotzerei endete. Im Gegenteil: „Wenn in den nächsten Tagen dann mancher auch mit blaugeschwollenem Auge oder verbundenem Kopfe umherläuft“, berichtet ein Franz Josef Bronner aus Höchstädt 1908, „ist er gleichwohl der Meinung: Lusti is gwen, und schö aa! Dös is heuer a Kirtag wen, ’sell kann sich sehen lassen!“ Ohne Rausch keine Party. Und: „Ein sogenanntes gstandenes Mannsbild“, sagt Historiker Riepertinger, „muss eben was vertragen.“ Freilich sei das ein Schmarrn. Aber so geht nun mal das Klischee.
Dass das nicht gesund ist, wusste man schon, bevor das Land gesundheitsbewusst wurde und anfing, zum „(Bier-)Bauch, Beine, Po“ zu rennen oder die Wampe beim Yoga wegzuatmen. Einem Pathologen fiel im ausgehenden 19. Jahrhundert etwas auf, was als „Münchner Bierherz“ in die Medizingeschichte einging. Jener Otto von Bollinger stellte fest, dass vor allem verstorbene Brauereimitarbeiter ein vergrößertes Herz hatten.
Nun ja: „Angaben über einen jahrelangen täglichen Bierverbrauch von bis zu 15 Litern waren keine Seltenheit“, heißt es in einem Aufsatz zur Bier-Landesausstellung. „Dazu trugen vermutlich auch die großzügigen Rationen an Haustrunk bei, mit denen Brauereien ihre Arbeiter teilweise entlohnten.“
Fast 250 Liter Bier im Jahr –so viel tranken die Bayern, als das 20. Jahrhundert anbrach. Heute trinkt der Bayer etwa die Hälfte. Und im Glas ist eben immer öfter Alkoholfreies. Darauf müssen die Brauereien reagieren. Doch so leicht ist das nicht, sagt Walter König vom Bayerischen Brauerbund. Für die Herstellung braucht man Entalkoholisierungsanlagen. „Die sind sehr teuer“, sagt König. Kleinere Brauereien karren ihr Helles zu einer anderen Brauerei und lassen dort den Alkohol entziehen. Riesen-Aufwand, aber hilft nix: Die Nachfrage bestimmt, was ins Tragl kommt.
In Maisach haben sie vor zwei Jahren das alkoholfreie Helle mit dem schönen Namen „Freibier“ ins Sortiment aufgenommen. Schon jetzt verkauft Chef Schweinberger 500 Hektoliter Alkoholfreies im Jahr – bei einer Gesamtmenge von 11 500 Hektolitern. „Wir müssen das zukaufen“, sagt Schweinberger. Eine eigene Anlage wäre viel zu teuer. Seine Hoffnung ist eine neuartige Hefe, die keinen Alkohol, aber feinen Biergeschmack produziert. Giesinger Bräu zum Beispiel stellt die „Freiheit“ so her.
Der Biergenuss geht mit der Zeit, das war schon immer so. Einst schilderte der Sachse Bruno Paul, Zeichner des Karikaturenblatts „Simplicissimus“, verwundert eine Szene aus einem Münchner Biergarten, einen Schlagabtausch zwischen Mutter und angetrunkenem Kind: „Du Muatta, i hab an Rausch.“ – „Was? Schamst di net? Wegen oaner Mass Bier?“ Um 1900 war das. Zum Glück lange, sehr lange her.