Mein zweiter Sommer in Deutschland neigt sich dem Ende zu. Ich habe ihn in München verbracht, viel gearbeitet und auch viel erlebt. Ende Juli reiste eine meiner Freundinnen in meine Heimatstadt in der Ukraine. Sie floh vergangenes Jahr vor dem Krieg nach Norwegen. Jetzt musste sie nach Odessa, um wichtige Unterlagen abzuholen. Gerade als sie in der Stadt war, begannen massive Raketenangriffe. Über Nacht wurden etwa 25 Baudenkmäler in der Altstadt zerstört, darunter die berühmte Verklärungskathedrale. Niemand konnte schlafen. An diesem Tag übernachtete meine Mutter in einem Wohnmobil am Meer. Während des Raketenabschusses bebte es so sehr, dass Geschirr vom Tisch fiel. Als ich mit meinen Eltern und meiner Freundin telefonierte, hörte ich am Telefon ständig Explosionen. So laut, als wäre ich selbst dort gewesen. Plötzlich sind meine beiden Leben verschmolzen. Tausend Gedanken sind mir durch den Kopf geschwirrt: Was mache ich, wenn etwas Schlimmes passiert? Wie schnell kann ich Tickets kaufen, um zu ihnen zu fahren?
Am nächsten Morgen ging meine Mutter nach Hause zu meinem Vater und meine Freundin flog zurück nach Norwegen. Doch nun ist wieder eine Freundin von mir in die Ukraine gereist. Sie erzählte mir, dass es in der Stadt fast nichts gibt, was an den Krieg erinnert. Trotz der treibenden Minen schwimmen Menschen im Meer und sonnen sich auf dem Sand. Trotz Ausgangssperre wird in den Diskotheken bis spät in die Nacht gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Sie hat München überhaupt nicht vermisst und will auch nicht mehr zurückkehren, sagte sie. So unterschiedlich sind die Erlebnisse. Meine Eltern haben das Land nicht verlassen und leiden dort jeden Tag, meine Freundin verbringt ihren Urlaub dort und spürt dabei nicht, dass Krieg ist.
Ich möchte in München bleiben. Jeden Tag denke ich daran, dass hunderttausende Flüchtlinge aus anderen Ländern, die schon in Europa sind, keine Möglichkeit haben, hier normal zu leben und zu arbeiten. An den Grenzen Europas werden viele Flüchtende zurückgedrängt oder auf dem offenen Meer ausgesetzt. Sie können keinen Asylantrag stellen. Wir Ukrainer haben großes Glück, dass wir hier so herzlich aufgenommen wurden. Das sollten wir immer wertschätzen.