Wie Schule besser werden könnte

von Redaktion

Zwei Pädagogen fordern den Eid für Bildungspolitiker – und warnen vor zu viel Digitalisierung

VON DIRK WALTER

München – Schulstudien wie jüngst „Iglu“ haben es gezeigt: Es häufen sich die Hinweise auf Lernrückstände, die auch, aber nicht nur, eine Folge der Corona-Pandemie sind. Der Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, Klaus Zierer, hat zusammen mit seinem Mitarbeiter Thomas Gottfried ein Thesenpapier verfasst, das unserer Zeitung exklusiv vorliegt. Es trägt den Titel „Den Kindern zum Wohl. Ein Eid für Bildungspolitiker“ und ist ein Appell für einen Kurswechsel in der Bildungspolitik.

Die beiden Pädagogen rechnen relativ schonungslos mit der derzeitigen Schulpolitik ab. „Anstatt durch bessere Lehrerbildung, lernwirksameren Unterricht, effektive Förderinstrumente und Neuausrichtung der Lehrpläne diesen elementaren Defiziten zu begegnen, verpulvert man Milliarden Euro für Digitaltechnik, ohne über deren gezielten Einsatz nachzudenken“, schreiben sie. „Ein Maximum physisch und psychisch chronisch kranker Kinder wird von der Bildungspolitik ebenso ignoriert wie die zunehmende Zahl von Bewegungsmuffeln und Nichtschwimmern.“ Dagegen lasse „eine Aufwertung von Kunst, Sport und Musik“ noch immer auf sich warten. „Ein Gesundheitspakt ist ebenso wenig in Sicht wie ein Politikpakt.“

Das Kind im Mittelpunkt? Fehlanzeige – man berausche sich an der Technik „und schüttet die Unternehmen auf Jahre hin mit Milliarden von Steuermitteln zu“, schreibt das Duo in Anspielung auf die Ankündigung der CSU, bis 2028 alle Schülerinnen und Schüler mit einem Tablet im Unterricht auszustatten. Zierer hält die klassischen Schulbücher für didaktisch wertvoller als digitale Varianten. Jüngst hat er sogar vom „Digitalisierungswahn“ gesprochen. Ganz abgesehen vom zweifelhaften pädagogischen Nutzen seien auch die Abwrack- und Wartungskosten für die schnell veralteten Tablets und Laptops gar nicht berücksichtigt.

Von der Schule werde zu viel erwartet, warnen Zierer und Gottfried. „Die Medien dokumentieren und kommentieren jede neue Studie und unterziehen alle Beschlüsse vom Haushalt bis zu den Lehrplänen einem permanenten Monitoring.“ Die Veränderungsdynamik sei rasant, die Erwartungen an Schule enorm. Nach wie vor sei das Gymnasium das Maß aller Dinge, „auch wenn viele nicht geeignet sind“, Ganztag, Inklusion und Medienbildung seien Schlagworte, zu denen sich jeder Schulpolitiker bekennen müsse. Schule werde letztlich zu viel aufgebürdet: „Wenn gesellschaftliche Probleme auftreten, wie derzeit eine Demokratiekrise, dann ist klar, wer diese lösen muss: die Schulen. Damit steht der Kultusminister in der Verantwortung. Derweil kann Schule nicht alles schaffen.“

Was sind nun die Gegenmaßnahmen? Klaus Zierer hat in einem viel beachteten Buch „Der sokratische Eid“ im vergangenen Jahr 40 Punkte formuliert, die Lehrer und Lehrerinnen an Schulen beachten und auf die sie (ähnlich wie Ärzte mit dem Eid des Hippokrates) vereidigt werden sollten. In Anlehnung daran schlagen Zierer und Gottfried einen „ressortspezifischen Amtseid“ vor, den jeder in den Landtag gewählter Bildungspolitiker ablegen sollte. Er lautet wie folgt:

„Als Bildungspolitiker verpflichte ich mich, – das umfassende und ganzheitliche Wohl der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt meiner täglichen Arbeit zu stellen, um deren Bildung zu autonomen, empathischen und verantwortungsbewussten jungen Menschen zu ermöglichen, – mich mit all meiner Kraft für umfassende Bildung und wertorientierte Erziehung einzusetzen und dafür bestmögliche Bedingungen und Ressourcen zu schaffen, – mich nicht von Moden und Trends, sondern von zeitlosen pädagogischen Argumenten und Zielen leiten zu lassen, – den Irrweg sogenannter digitaler Bildung zu verlassen zugunsten analoger, direkter, menschlicher, lebensnaher und wertorientierter Persönlichkeitserziehung, – die Ergebnisse erziehungswissenschaftlicher Forschung zur Kenntnis zu nehmen, zu reflektieren und in der politischen Praxis umzusetzen, – persönliche Karriereziele und parteipolitische Erwartungen diesen Idealen unterzuordnen, – auf selbstdarstellerische PR-Veranstaltungen zu verzichten und Veröffentlichungen auf fachliche Bildungsthemen zu beschränken, – meine Aufgaben unabhängig von Lobbyinteressen und Wählerwünschen sachbezogen, neutral, objektiv und überparteilich zu erfüllen, – über die Legislaturperiode hinaus zu denken, zu planen und zu handeln, – im permanenten, ergebnisoffenen Gespräch mit Lehrern, Schülern, Eltern, Sachaufwandsträgern und Wissenschaft, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen sowie Verbänden zu bleiben und deren Wahrnehmungen und Bedürfnisse kritisch zu reflektieren, – eigene Fehler und Versäumnisse selbstkritisch einzuräumen und auf Beschönigungen, Lügen, Schuldzuweisungen an andere und Vertuschungen zu verzichten.“

Soweit der Textvorschlag der Schulpädagogen. Zierer und Gottfried verstehen ihren Vorschlag als „Kompass und Maßstab“ für schulpolitisches Handeln. Niemand werde ihn fehlerfrei in allen Punkten erfüllen können. Aber so wie erfolgreiches Lehrerhandeln vor allem eine Frage der Haltung und nicht zuerst des Fachwissens sei, so müssten auch Schulpolitiker immer neu daran erinnert werden, dass sie nicht in erster Linie der Karriere verpflichtet seien – sondern dem Wohl des Kindes.

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