München – Aus aller Welt pilgern Besucher nach Bayern, um die Bergwelt der Alpen zu erleben. Michael Ritter vom Landesverein für Heimatpflege erklärt, was die Menschen so an der Bergwelt fasziniert – und warum es auf der Alm koa Sünd gibt.
Herr Ritter, was zieht die Menschen von München bis in den hohen Norden so magisch in die Alpen und auf die Almen?
Zum einen spielt eine Rolle, dass sie diese faszinierende und irgendwie fremde Welt aus der Literatur und den Heimatfilmen kennen, die vor allem in den 50ern boomten. Die Berge mit ihrer Majestät besitzen diese ungemeine Anziehung, und man hebt den Blick automatisch gen Himmel. Zum anderen ist die Vorstellung atemberaubend, dass es Menschen gibt, die ausschließlich hier oben leben, die dem Unbill der Natur ausgesetzt sind. Das ist sozusagen ein Gegenentwurf zu der Welt, die wir kennen.
Ein Beispiel?
Wenn Sie krank sind, dann gehen Sie zum Arzt. Wenn Sie Hunger haben, dann kaufen Sie um die Ecke was ein. Das alles ist auf der Alm nicht möglich. Wir gehen zwar davon aus, dass die Sennerin sich in der Not schon zu helfen weiß und ein Handy hat – sie braucht nur noch Empfang. Aber dennoch ist das eine existenzielle Lebensform da oben, man ist auf sich alleine gestellt und für sich und das Überleben des Viehs verantwortlich.
Und Senner ist ein Beruf, der sich über die Jahrhunderte nicht besonders weiterentwickelt hat, oder?
Er ist einer der wenigen Berufe, der sich wirklich nur ganz wenig geändert hat. Das ist der Situation geschuldet. Du kannst da oben keine Melkmaschinen hinbauen, du hast keine Elektrizität, du bist der Natur ausgesetzt wie vor hunderten Jahren. Du musst schauen, dass du bei Unwettern das Vieh reinholst, und du hast einen Zeitplan, der nicht aufgeschoben werden kann – vom Melken bis zu Reparaturarbeiten. Einen Tag ruhiger angehen ist nicht möglich.
Ruhiger angehen kann es auch, je nach Tour, nicht jeder Bergwanderer…
Ja, aber egal, wie schwer der Weg ist: Wenn man die Almhütte erreicht hat, sind die Gefühle vielfältig. Zum einen sieht und spürt man beim Schauen all das, was man daheim nicht hat. Dass man sich anstrengen und überwinden muss, um belohnt zu werden. Dass man sich mal wieder spüren lernt – Sporteln kann man ja auf tausend Arten, aber in der Natur mit einem spektakulären Ziel vor Augen, das ist etwas ganz anderes.
Was fasziniert immer mehr Junge am Berg?
Ich glaube, da greift der gute alte Rousseau: zurück zur Natur. Unsere Welt ist so schnelllebig geworden, dass die Berge einen echten, großen Kontrapunkt setzen. Man wird aufs Wesentliche reduziert. Man spürt die Unmittelbarkeit der Existenz. Millionen Menschen wenden sich zwar von der Kirche ab – aber das Erhabene, Transzendentale suchen sie ja nach wie vor.
Warum gibt’s auf der Alm koa Sünd?
Meine Interpretation ist, den Spruch wörtlich zu nehmen, weil das Leben auf der Alm sehr stark religiös geprägt war. Fast jeder Schritt beim Auf- oder Abtrieb ist mit religiösen Elementen befrachtet. Vor dem Auftrieb hat der Bauer sein Vieh mit Weihwasser besprengt. Beim Betreten der Almhütte sprach die Sennerin ein Gebet. Dahinter steht die Bitte an die höheren Mächte, dass alles gut geht. Wenn das Vieh zum Almabtrieb bekränzt wird, weil jedes heil heruntergekommen ist, dann ist das so viel mehr als Folklore, auch wenn das auf die Touristen so wirkt: Es ist gelebte Freude und Dankbarkeit.
Interview: Matthias Bieber