Lermoos – Der Herbst gilt als Erkältungszeit. Einen lässt das kalt – weil er Arztbesuche nur vom Hörensagen kennt. „Zuletzt hatte ich vor 17 Jahren einen Schnupfen“, sagt Wanderführer Walter Stoll, sonnengebräunte Haut unter den weißen Haaren, jugendlicher Schalk im Gesicht. Kaum zu glauben, dass er im November 77 Jahre alt wird. Das Geheimrezept seiner stählernen Gesundheit findet sich in den Bergen rund um die Zugspitze, in denen er seine Tage verbringt. Der Wald ist seine Apotheke.
Walter Stoll hat sich im Alter von 60 Jahren noch mal grundlegend neu erfunden. Vorher hat er ein Möbelhaus geleitet und seine Tage im Neonlicht verbracht. Am Tag seines Renteneintritts hatte er dann die Idee, sich zum Kräuter- und Heilpflanzenpädagogen ausbilden zu lassen und sein Hobby auf diese Weise zum Beruf zu machen. Und heute? „365 Tage im Jahr bin ich draußen“, sagt Walter Stoll. Im Winter ist er auf Schneeschuhen unterwegs, im Sommer zeigt er Hotelgästen in Lermoos (Österreich) eine Welt jenseits von Wellness und Haubenküche. „Zu Hause müsste ich Staub saugen oder sonst was machen – da gehe ich doch lieber in die Natur“, sagt er.
Wer das Glück hat, einen Vormittag mit Stoll durch die Wälder rund um die Zugspitze zu streifen, der sieht die Welt danach mit anderen Augen. „Alle mal anhalten!“, ruft er die kleine Gruppe zurück, die drauf und dran war, an einer unscheinbaren Schönheit vorbeizulaufen – am gemeinen Pestwurz. Pestwurz, mit der einst Pestbeulen behandelt wurden, hilft heute gegen Heuschnupfen. Die kleine Pestkapelle auf der Ehrwalder Alm erinnert an die vielen Toten, die die Seuche im Mittelalter gefordert hat. Wenig später reibt Walter Stoll an einer gelben Pflanze, seine Finger werden rot. Echtes Johanniskraut! In der Heilkunde werden Depressionen damit behandelt, bei unserem Naturführer dient es als „After Sun“. Die Blüten vier, fünf Wochen in Sonnenblumenöl legen – fertig ist das natürliche Hausmittel gegen Verbrennungen.
Was der Otto-Normal-Wanderer für Unkraut hält, ist für Walter Stoll ein Wundermittel aus der Natur. Aus Spitzwegerich macht er Hustensaft, Breitwegerich hilft gegen Mittelohrentzündung, die Goldrute wirkt wie ein Blasentee, die Vitamin-C-reiche Berberitze nimmt an heißen Tagen den Durst. Es wächst kein Kraut am Wegesrand, zu dem der 76-Jährige keine Geschichte erzählen kann. Es gibt sogar eine Pflanze, die einen Brummschädel lindert, wenn der Abend zu feucht-fröhlich war: die Lavendelweide. In seinem Haus, sagt der Experte, stehen stets bis zu 15 selbst gebrauter Wundermittel.
Und wie das so ist bei (Kräuter-)Hexen: Man sollte es sich nicht mit ihnen verscherzen. Eine missliebige Nachbarin wollte Pfefferminztee selber herstellen, inspiriert durch Stolls Fachwissen. Pech für sie, dass sie Rossminze erwischte und Walter Stoll sie heimlich grinsend machen ließ. Tee aus Rossminze schmeckt nämlich „wie Terpentin“. Die Nachbarin, berichtet Stoll, sei dann auch irgendwann zurück nach Wien gezogen. Solche Geschichten erzählt der Kräuter-Experte mit einem frechen Lausbubengrinsen.
Bei anderen Themen hört für ihn der Spaß auf: Einmal sei ihm eine Dame aus Nordrhein-Westfalen mit einem Strauß Orchideen entgegengewandert. Walter Stoll belehrte sie, dass die zehn Orchideenarten rund um den Mittersee unter strengem Naturschutz stehen. Pflücken verboten! Die Dame beeindruckte das wenig. Nach einer Anzeige von Stoll dürften es die teuersten Orchideen ihres Lebens gewesen sein. Und dabei hatte die Dame noch Glück, dass sich kein Edelweiß in ihren Blumenstrauß verirrt hatte, denn: „Für die Strafe, die auf ein Edelweiß steht, kannst du locker einen Kleinwagen kaufen.“ 30 000 Euro Strafe kostet ein illegal gepflücktes Edelweiß.
Walter Stoll ist nicht nur Wanderführer, sondern auch Jäger und Angler. Im Juni war er Lachse fischen in Norwegen, und oben auf der Jagdhütte bei Ehrwald erkennt er eine Gams mit bloßem Auge am gegenüberliegenden Fels. Kann das wirklich wahr sein, dass er mit bald 80 so gestochen scharf sieht, sich jeden lateinischen Pflanzennamen merken kann nebst den dazugehörigen Geschichten? Und dass Stoll – es ist noch nicht lange her – mit den Langlaufski eine Halbtagestour in Marathonlänge absolviert hat? Der Bergfex grinst: „Meine Frau sagt immer, ich soll mal einen Check-up beim Arzt machen. Bisher konnte ich mich aber erfolgreich drücken.“
Schon die Annahme, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte, das Zulassen dieser Vorstellung in einem virenvernebelten Wartezimmer – „davon kann man ja nur krank werden“.