Bergauf für die Integration

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

Garmisch-Partenkirchen – Manar bleibt alle paar Meter stehen und zieht ihr Handy aus der Tasche. Es gibt hier einfach zu viele Motive für Fotos. Obwohl es immer wieder anfängt zu nieseln. Aber die Blätter an den Bäumen leuchten rotgelb gegen den grauen Himmel an. Manar lebt seit zwei Jahren in München – an den bayerischen Wäldern und den Berggipfeln kann sie sich nicht sattsehen. Sie meldet sich jedes Mal an, wenn sie erfährt, dass wieder eine Wanderung für Flüchtlinge angeboten wird – so wie heute in Garmisch-Partenkirchen. „Ich liebe die Berge“, sagt sie. Manar stammt aus dem Nordirak, dort war sie früher regelmäßig mit ihren Geschwistern wandern. Ihre Familie lebt noch in ihrer Heimat, ihr schickt Manar die Bilder. „Wenn meine Mutter die Fotos sieht, ist sie beruhigt – weil sie dann sicher ist, dass ich kein Heimweh habe.“

Aber nicht nur wegen der Fotos ist Manar bei jedem Ausflug dabei. „Beim Wandern vergesse ich für ein paar Stunden alle Sorgen.“ Die junge Irakerin lebt in einer WG in München, sie lernt für die B2-Deutschprüfung. Sie will dauerhaft in Bayern bleiben, ihr Maschinenbaustudium anerkennen lassen und irgendwann in ihrem Beruf arbeiten. All das weiß niemand in der Gruppe, mit der sie heute unterwegs ist. Bei diesen Wanderungen geht es nicht um Herkunft oder Zukunftsperspektiven. Es geht um Gemeinschaft. „Für mich fühlt es sich so an, als ob ich mit meiner Familie unterwegs wäre“, sagt Manar. „Obwohl ich die meisten in dieser Gruppe nicht kenne.“

Genauso ist das Projekt, das der Deutsche Alpenverein und die Malteser gemeinsam initiiert haben, auch gedacht. Es heißt A.L.M. – das steht für Alpen, Leben, Menschen. Es soll einen Beitrag zur Integration leisten. Und zur Inklusion, denn auch Menschen mit Behinderung sind dazu eingeladen. 50 Ausflüge haben in diesem Jahr bereits stattgefunden. „Für viele Geflüchtete ist das Projekt auch eine Chance, dem tristen Alltag in den Unterkünften für ein paar Stunden zu entkommen“, sagt Stefan Winter vom DAV.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) fördert das Projekt. An diesem nasskalten Oktober-Tag hat sich Bamf-Präsident Hans-Eckhard Sommer die Zeit genommen, die Gruppe auf ihrer Tour zum Pflegersee zu begleiten. Sommer wandert in seiner Freizeit gerne – eine Tour wie diese ist für ihn aber neu. Unterwegs kommt er mit zwei Ukrainern ins Gespräch. Leonida ist blind, Illia stark sehbehindert, beide laufen mit Blindenstock. Und das so selbstsicher, dass Sommer sofort klar ist, dass es nicht ihr erster Ausflug in die Berge ist. „Wir lieben Bayern“, sagt Leonida. „Vor allem die Berge.“ Das sie sie nicht sehen kann, spielt für sie keine Rolle. Sie hört die Blätter rascheln, spürt den Waldboden unter den Füßen und genießt die frische Luft. Beide erzählen Hans-Eckhard Sommer von ihrem Leben in Kiew – und davon, wie sie Bayern lieben gelernt haben. Auf Ausflügen wie diesem.

Die steigenden Asylzahlen beschäftigen Hans-Eckhard Sommer seit vielen Monaten. 230 000 Asylanträge könne das Bamf pro Jahr bearbeiten, bei rund 80 Prozent der Verfahren dauere die Bearbeitung aktuell drei bis vier Monate, berichtet er. „Aber das wird wohl nicht mehr lange so zu halten sein.“ Dazu beantragten gerade zu viele Menschen Asyl. Jeden Monat kommen derzeit rund 30 000 neue Anträge dazu. Obwohl das Bamf bis Ende September bereits über fast 200.000 Anträge entschieden hat, komme bei weiter steigenden Zugangszahlen das System an seine Grenze.

Heute will sich Sommer aber nicht mit Zahlen beschäftigen – sondern mit den Menschen hinter den Anträgen. Einer von ihnen ist Mohammad. Der 43-Jährige stammt aus Jordanien, sein Asylverfahren hat erst begonnen. Er lebt in Garmisch-Partenkirchen im Abrams-Komplex. Jeden Tag beginnt er mit einer Tasse Kaffee im Freien – und hemmungslosem Staunen über die grüne Natur: „So ein Grün gibt es in meiner Heimat nicht.“ Wie lange er in Bayern bleiben wird, weiß er nicht. Seine Zukunft ist nicht mehr planbar. Er weiß nicht, dass der Mann, der gerade mit ihm die Aussicht von der Werdenfels-Ruine genießt und ihm die Zugspitze zeigt, der höchste Mann in der Behörde ist, die für sein Verfahren zuständig ist. Aber er weiß, dass er von diesem Tag lange zehren wird. „Als der Busfahrer uns nach Garmisch-Partenkirchen gebracht hat, sagte er, wir fahren jetzt ins Paradies“, erzählt Mohammad und blickt ins Tal. „Er hat die Wahrheit gesagt.“

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