Burgkirchen – Wer an Allerheiligen auf den Friedhof in Burgkirchen geht, vorbei an der kleinen Kirche St. Johann, der kommt an der Nordmauer an einen besonderen Ort. Steine, Holzstöckchen, mit bunten Bildern bemalt: ein Stern, Blümchen, Spielzeugautos. So freundlich das Grab wirkt, so tieftraurig ist seine Geschichte. Es ist die Ruhestätte von 152 Kindern osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen, die im Zweiten Weltkrieg in der Ausländerkinder-Pflegestätte in Burgkirchen starben. Vernachlässigt, verhungert, erfroren. Doch es gibt einen Menschen, der nun, fast 80 Jahre danach, ein kleines Licht in diese dunkle Geschichte gebracht hat. Andreas Bialas aus Mehring hat es geschafft, in Polen einen Überlebenden dieses Kinder-Lagers zu finden – und verhalf ihm zu einer emotionalen Reise zurück zu seinen Wurzeln in Bayern.
Andreas Bialas ist selbst Pole. 1989 wandert der Lehrer nach Deutschland aus. Als er eines Tages im Geschichtszentrum Mühldorf von der Burgkirchner Kinder-Pflegestätte erfährt, berührt ihn das tief. Er sieht die Liste der toten Kinder und plötzlich liest er seinen eigenen Nachnamen. Zwei Mädchen, Regina und Aniela Bialas, wurden am 4. April 1945 in der Baracke geboren. Sie starben nach wenigen Tagen. „Ich hatte sofort meine eigenen Kinder vor Augen. Ich hatte das Gefühl, ich habe diese Babys in meinem Arm.“ Andreas Bialas schließt sich der Gruppe Kindergrab des Vereins „Für das Erinnern“ an. Sein Ziel: Antworten finden – auf die Frage, was damals passiert ist.
„Viele Familien in Polen wissen heute nur noch, dass sie damals in Deutschland Verwandte verloren haben.“ Bialas startet seine Detektivarbeit. Sein Ausgangspunkt: die im Standesamt archivierten Daten der Kinder und Mütter. Er recherchiert im Arolsen-Zentralarchiv der NS-Geschichte, Zeitungen und Radios drucken und senden seine Aufrufe: Wer kennt jemanden? Auf Facebook schreibt er gleichnamige Menschen an. Sobald er die Herkunftsorte weiß, wendet er sich dort an Behörden und Pfarreien. Meist wird er abgewiesen: Datenschutz. Oft verläuft die Suche ins Leere. Auch die Familie der toten Mädchen mit seinem Nachnamen findet er nicht.
Auf ein Kind aber setzt der 61-Jährige große Hoffnung: Jan Gruchalski, das letzte in der Burgkirchner Baracke geborene Baby. Seine Mutter Irene war 1941 mit 15 Jahren nach Deutschland verschleppt worden. In den Kriegswirren vor Eintreffen der Amerikaner, am 2. Mai 1945 um 22 Uhr, war der kleine Jan zur Welt gekommen. Eines Tages klingelt Bialas’ Telefon. Ein Mann ist dran, seinen Namen will er nicht sagen. Er wisse, wo Jan Gruchalski lebt. Nennt den Ort, wünscht viel Glück – und legt auf. Bialas fasst sich ein Herz und fährt einfach hin: Jastrowie, Nordpolen. Heute glaubt er, irgendeine gute Macht habe ihn gelenkt. Denn an einem Spielplatz trifft er mehrere Frauen.
Auf gut Glück fragt er eine nach Jan und sie antwortet: „Ja, den kenne ich.“ Bialas klingelt bei Gruchalski, ein kleiner Mann öffnet. Wo er geboren sei? Deutschland, mehr wisse er nicht. Im Kinderheim habe er gelebt. Bialas zeigt dem Mann Dokumente, Bilder von der Baracke. Und der Pole fängt an zu weinen. Bialas ist betroffen: „Es tut mir leid, dass ich all das Vergangene jetzt aufwirble.“ Aber der Mann beteuert: „Nein, ich weine vor Glück!“
Heuer, 78 Jahre nach seiner Geburt in jener schrecklichen Baracke, ist Jan Gruchalski zurückgekehrt nach Burgkirchen. Andreas Bialas zeigt ihm den Ort, wo das dunkle Holzgebäude stand, führt ihn zum Mahnmal. Erschüttert steht Gruchalski am Kindergrab. „Wenn der Krieg länger gedauert hätte, würde ich jetzt auch dort liegen.“ Und ein weiterer Besuch steht an: am Grab seines Bruders Franz. Auch ihn hat Bialas gefunden – 1948 war er auf die Welt gekommen, 2018 im nahen Waldkraiburg gestorben, ohne dass es sein Bruder wusste. Hier, auf dem schönen Waldfriedhof, beginnt Jan Gruchalski wieder zu weinen. Er umarmt den Grabstein, als umarme er seinen Bruder, und nimmt Abschied von dem, den er nie kennenlernen durfte. Wie Franz war Jan von der Mutter zur Adoption gegeben worden, die Väter kümmerten sich nicht. Er hatte sich später ein gutes Leben in Polen aufgebaut. Am Unwissen der Vergangenheit aber hatte er sein Leben lang gelitten. Die Dankbarkeit, die Andreas Bialas in Jan Gruchalskis Augen sah, spornt ihn an, weiterzuforschen. Viele Schicksale sind noch ungeklärt.