Der bayerische Seher

von Redaktion

Alois Irlmaier hat wieder mal Hochkonjunktur – „Dauerbrenner der Apokalyptik“

VON DIRK WALTER

München – „Er ist ein mittelgroßer, kräftiger, einfach-ländlich gekleideter Mann von 55 Jahren, einem Bauern oder Schäfer ähnlich“, schrieb unsere Zeitung 1949, als sie Alois Irlmaier in Freilassing besuchte. Der Irlmaier – der Nostradamus von Freilassing, ein Mann, der hellseherische Fähigkeiten gehabt haben soll. Irlmaier ist seit 1959 tot, Leberkrebs, doch sein Mythos lebt. Bücher über Hellseher haben wieder Konjunktur, auf Amazon erobern alte Schmöker über den seltsamen Mann mit dem stechenden Blick („Nur eines ist sofort auffällig – das Auge! Einem solchen Augenpaar begegnet man selten“, schrieb eine Zeitung) Spitzenplätze.

Alois Irlmaier, geboren 1894 bei Siegsdorf, war von Beruf Brunnenbauer. Seine Stärke war es, verborgene Quellen zu finden – meist ohne Wünschelrute. Über 700 soll er mit bloßen Händen aufgespürt haben. „Seine Hände schwingen von selbst aus, wenn er auf Wasser gestoßen ist, selbst wenn es 80 Meter unter seinen Füßen quillt“, berichtete der Merkur-Reporter. Der Bauernsohn war Soldat im Ersten Weltkrieg, wurde angeblich verschüttet und überlebte. Seitdem soll er seherische Fähigkeiten gehabt haben, mit denen allenfalls noch der legendäre „Mühlhiasl“ mithalten konnte – Matthäus Lang (wohl 1753/55–1805/25), der Waldprophet im Bayerischen Wald.

In den 1920er-Jahren ging es los, in der NS-Zeit hatte der Irlmaier dann Hochkonjunktur. Berühmt wurde er, weil er präzise Bombenangriffe auf Freilassing, Bad Reichenhall und Rosenheim vorausgesagt haben soll. Die Nazi-Behörden duldeten das. Und nach 1945 ging es weiter: Bauern fragten ihn, wohin sich ihre Hennen oder Kühe verlaufen haben. Flüchtlinge, wann sie wieder in ihre Heimat zurück dürfen, Bestohlene fragten nach dem Dieb. Frauen, ob sie Kinder kriegen oder sich scheiden lassen sollten, selbst die Kriminalpolizei suchte ihn auf. Politiker, die ihre Erfolgschancen ausloten wollten, ja sogar Fussballvereine wollten vorab das Ergebnis ihrer Partien erfahren. Die „Trefferquote“: angeblich über 90 Prozent.

In der Nachkriegszeit, als sein Rat besonders gefragt war, gab es Warteschlangen vor seinem Haus, nicht selten mehr als 100 Leute, meist am Wochenende. „Es wohnt in einer Holzbaracke in der Nähe des Bahnhofs“, schrieb der „Merkur“. „Ein Drahtzaungatter, an dem ein Schildchen mit der Aufschrift: ,Alois Irlmaier, Brunnenbau und Installation’ baumelt.“ Und weiter: „Er spricht laut, grad heraus in einer urwüchsigen altbayerischen Mundart und redet jeden mit ,Du’ an.“

Eine Zeitung berichtete im März 1946, dass schon morgens um acht Uhr vor seinem Haus 70 Personen warteten. „Eine weitere Verstärkung brachte der Zug aus München. Schon vom Bahnhof an ging es im Laufschritt zum Haus des Hellsehers“. Als ihn der „Merkur“ im Oktober 1949 besuchte, war ihm allerdings „das Hellsehen behördlich untersagt“, wie die Zeitung berichtete. Zuvor war er von einem Pfarrer wegen „Gaukelei“ angezeigt und angeklagt worden, ein Straftatbestand, den es heute nicht mehr gibt. Irlmaier ließ sich verleugnen, ein bissiger Hund hielt Neugierige auf Abstand. „I sag nix mehr“, beschied er den Reporter. „Moanas, i hab no net gnua mit der Schererei?“

Es gibt Fachleute, die Irlmaier etwas nüchterner einordnen. So einer ist Matthias Pöhlmann, Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in Bayern. Irlmaier und der Mühlhiasl sind „Dauerbrenner in der säkularen Apokalyptik“, sagt Pöhlmann. Sie tauchen immer wieder in Krisenzeiten auf und sind letztlich Reaktion auf Krisenerfahrungen. Krisen gibt es ja reichlich: Krieg in der Ukraine, Hamas-Terror gegen Israel, Inflation – in solchen Situationen versuchen viele Menschen, einen Plan zu entdecken, der dem Chaos Sinn und Ordnung verleiht.

Und manche machen ein Geschäft damit. Zum Beispiel der Autor Stephan Berndt, der auch Pöhlmann „einschlägig“, wie er sagt, bekannt ist. Sonnenfinsternis, Jahrtausendwende, das Ende des Maya-Kalenders 2012 – zu all dem äußerten sich Berndt und ähnliche Autoren aus der Esoterik-Ecke lang und breit. Zu Irlmaier hat Berndt schon vor Jahren ein Buch geschrieben, das derzeit in der Amazon-Bestseller-Liste weit oben rangiert.

Was von den Irlmaier-Schwärmern häufig hintangestellt wird: die vermeintlichen Prophezeiungen sind meist recht allgemeiner Art, sie lassen einen großen Interpretationsspielraum.

So war das manchmal auch bei Irlmaier. Ob neuer Nahostkrieg, Rache des „Gelben Drachen“ in Alaska und Kanada, Hagelschlag, Missernten oder Klimaänderung („Es werden Südfrüchte bei uns wachsen“, soll er prophezeit haben) – Irlmaier hat in seinem Leben alles und jedes geweissagt. Ob die Weissagung auch eingetroffen ist, ist Ansichts-, wenn nicht Glaubenssache.

Der „Merkur“ zitierte ihn 1949 zum Beispiel mit folgender Voraussage: „Es gibt wieder einen großen Krieg, wenn das Getreide reif ist.“ Allerdings, so fügte der Brunnenbauer sicherheitshalber an: „Das Jahr kann ich leider nicht sagen.“

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