NATALIAS NEUANFANG

Zwei völlig andere Welten

von Redaktion

Im russisch-ukrainischen Krieg ist ein Friedensschluss in weiter Ferne. „Wie läuft es zu Hause?“, fragte ich meinen Vater vor ein paar Tagen. „Alles in Ordnung“, antwortete er. „Ich muss nur meine Schwester anrufen und herausfinden, wie es ihr geht. Eine Rakete hat gerade die Bauwerft unweit ihres Hauses getroffen.“ Für meine Eltern ist der Krieg längst etwas Alltägliches geworden. Diesen Winter feiert mein Vater seinen 60. Geburtstag. Das bedeutet mir viel. Er wird nicht zur Armee eingezogen und er kann endlich die Grenze überqueren. Ich bete jeden Tag, dass ihm nichts Schlimmes passiert und er mich im Frühjahr in München besuchen kommen kann. Dann nehme ich ihn zu einem Fußballspiel mit, zeige ihm die Therme in Erding und wir werden zusammen in die Berge gehen. Diese Gedanken machen mich glücklich. Mein Vater und ich haben am selben Tag Geburtstag. Kurz habe ich darüber nachgedacht, wie es wäre, in die Ukraine zu fahren und mit ihm zusammen zu feiern. Doch dann wurde mir klar, dass meine Eltern darüber definitiv nicht glücklich sein würden. Ihnen geht es besser, wenn sie wissen, dass ich in Sicherheit bin. Und was wäre, wenn ich nicht nach Deutschland zurückkehren könnte? In das neue Leben, das ich so sehr liebe.

Kürzlich hat mir meine Vermieterin ein altes Video gezeigt. 2001 probierte ihr Freund eine Digitalkamera aus und filmte alltägliche Szenen aus ihrem Leben. Seitdem hat sich nichts geändert. Dasselbe Wohnzimmer unter dem Dach mit Kamin, dasselbe glückliche Paar, nur vor 22 Jahren. Damals war ich sechs Jahre alt und lebte in der Ukraine. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages auch in dieser Wohnung wohnen und dieses Video anschauen würde? Nun habe ich noch mehr das Gefühl, meine Vermieter schon mein ganzes Leben lang zu kennen. Sie waren es auch, die mir von einem alten bayerischen Brauch erzählten. Vergangenes Wochenende durfte ich bei der Leonhardifahrt in Fürstenfeldbruck dabei sein. Ich erfuhr zum ersten Mal vom heiligen Leonhard, dem Schutzpatron der landwirtschaftlichen Tiere, zu dessen Ehren jedes Jahr prächtige Pferdeumzüge organisiert werden. In der Ukraine bin ich viele Jahre lang geritten. Deshalb habe ich mit besonderer Freude die hübsch herausgeputzten Pferde, festlich geschmückten Gespanne und Kutschen beobachtet. Spielmannszüge und Blaskapellen marschierten auch mit. Reiter winkten den Bürgern. Ich hatte sofort ein Gefühl der Zugehörigkeit. Was für eine wunderbare Tradition das ist! Leider habe ich in meiner Heimat noch nie an so etwas teilgenommen. Mir scheint, dass wir in der Ukraine nicht wissen, wie wir unsere alten Traditionen wertschätzen sollten. Und jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Während in Bayern Pferdeparaden stattfinden, findet auf dem zentralen Platz in Kiew eine Parade zerstörter russischer Militärausrüstung statt. Eine völlig andere Welt!

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