Großweil – Jan Borgmann steht vor dem Tor einer großen Scheune und schiebt es zur Seite. Nicht etwa, um sich um die Heuernte zu kümmern. In der Scheune steckt gewissermaßen die Schatzkammer des Freilichtmuseums Glentleiten. Der Historiker geht zu einem kleinen Ziffernblock an der Wand und gibt den Code ein. Er öffnet ein weiteres Tor und steht vor rund 80 000 historischen Objekten: Traktoren, Kühlschränke, Sofas und alles, was sich in der fast 50-jährigen Museumsgeschichte angesammelt hat, ist darin auf mehreren Stockwerken in langen Gängen verteilt. Auch ein aus der Zeit gefallener Küchenschrank aus Holz ist vor 30 Jahren im Depot untergekommen. An ihm sind Gebrauchsspuren zu sehen, die Türknäufe sind lose. Für die Historiker von der Glentleiten (Kreis Garmisch-Partenkirchen) ist er trotzdem von unschätzbarem Wert.
Eigentlich gehört der Küchenschrank zum Oberländer-Hof, einer Anlage aus Oberzeitlbach bei Altomünster (Kreis Dachau). Bereits in den 80er-Jahren hatte der frühere Direktor Helmut Keim den Dreiseithof von 1783 über Kontakte zu örtlichen Heimatpflegern entdeckt. Vier unverheiratete Geschwister wohnten zuletzt dort. Als die letzte von ihnen gestorben war, hatte das Team 1993 damit begonnen, das alte Wohnhaus Stein für Stein abzutragen und die Teile in Großweil einzulagern. Knapp 80 Kilometer Luftlinie liegen zwischen den beiden Orten. Das Museum wollte sich den Hof auf keinen Fall entgehen lassen – doch erst 30 Jahre später kommt der Wiederaufbau in Gang.
Der Oberländer-Hof ist das wohl größte Puzzle Bayerns. Drei Jahrzehnte schlummerten die Einzelteile des historischen Wohnhauses verpackt auf dem Gelände und im Depot der Glentleiten. Seit 2021 arbeitet das Team am Wiederaufbau. Der Hof wird das erste Exponat des Freilichtmuseums aus dem nördlichen Oberbayern sein. Julia Schulte to Bühne ist die Frau, die Häuser versetzt. Die gebürtige Norddeutsche taucht dafür tief ein in Oberbayerns Geschichte. Erst seit einem Jahr ist sie Museumsdirektorin, doch die Volkskundlerin kennt bereits jeden Stein des Hofs. Sie schiebt die Plane des Bauzelts beiseite, unter der sich das Wohnhaus verbirgt. Darunter sind die Arbeiten in vollem Gange. Am Gebäude sind Stützbalken angebracht, das Dach muss gedeckt und der Boden verlegt werden. Auch der alte Küchenschrank soll nach dem Ende der Arbeiten wieder an seinem alten Platz stehen.
Beim Abbau in den 90ern wurden die einzelnen Bestandteile des Gebäudes durchnummeriert. 30 Jahre später hilft ein ausgeklügeltes System den Handwerkern beim Puzzeln. 00998 FLM etwa steht für das kleine Fenster, durch das die Bewohner von der Stube in den Flur spähen konnten. Dazu kommen detaillierte Pläne und eine Fotodokumentation.
Das Wohnhaus steht auf einem modernen Fundament mit Keller. Damit das Gebäude möglichst gut erhalten bleibt, wird es über Heizschläuche auf eine Temperatur zwischen 12 und 14 Grad temperiert. Für das Freilichtmuseum ist die Gebäudeversetzung ein echter Kraftakt. Die Kosten für Transport, Wiederaufbau und Restaurierung schätzt Schulte to Bühne auf einen oberen sechsstelligen Betrag. „Wir werden oft gefragt, warum wir so einen großen Aufwand betreiben“, sagt sie. „Ich finde, je mehr man vom Original mitnimmt, desto authentischer wirkt es.“ Bis spätestens Ende 2024 soll das Wohnhaus stehen. Auch ein großer Stadel soll von Oberzeitlbach an die Glentleiten gebracht und 2025 wieder aufgebaut werden. Dabei wird aber nichts im Depot zwischengelagert.
Der Oberländer-Hof ist wie eine Zeitkapsel, an der die Moderne in all den Jahrzehnten vorbeigezogen ist. Eine Waschmaschine, einen Fernseher oder gar ein Auto – all das hat es auf dem Anwesen nie gegeben. „Dort ist die Zeit stehen geblieben“, stellt Jan Borgmann fest. Der Historiker hat den Schriftverkehr der Geschwister und Archive durchforstet, um der Geschichte des Hauses näherzukommen. Die Mutter hatte Druck gemacht, dass alle vier Kinder ledig blieben. „Sie haben sich irgendwann damit arrangiert“, sagt Borgmann. „Weil sie wussten, dass es keine Nachfolger geben wird, gab es keinen Druck zur Modernisierung.“
Nach getaner Feldarbeit haben sich die vier Geschwister gern auf ihrer Eckbank niedergelassen. Ein weiteres Schmuckstück, das 30 Jahre im Depot des Freilichtmuseums lagerte. Eine der Schwestern wurde oft zum Einkaufen geschickt. Auf dem kurzen Rückweg hat sie es sich selten entgehen lassen, heimlich zu naschen. Der Schweinsbraten aus dem Wirtshaus hat den Vieren besonders gut geschmeckt. Die Geschwister waren in Oberzeitlbach sehr beliebt. Oft unterstützten die Nachbarn sie bei der Feldarbeit. Die Tür zum Wohnhaus war stets offen. „Die Geschwister waren keine Eigenbrötler, sondern im Dorf und in der Kirche sehr engagiert“, berichtet Borgmann.
„Mit den letzten Bewohnern erzählt das Haus seine eigene Geschichte“, sagt Julia Schulte to Bühne. Sobald es restauriert ist, wird das Tor zur Scheune wieder aufgehen. Dann kommen der Küchenschrank und die Eckbank zurück in ihre alte Heimat. Nach über 30 Jahren ist der Umzug geschafft. VON VINZENT FISCHER