Generalstaatskommissar Gustav von Kahr hält am 8. November 1923 im Bürgerbräusaal eine Rede, als Hitler seinen Putschversuch startet. Von Kahr, der bayerische Chef der Reichswehr von Lossow und Polizeichef Seißer werden in einen Nebenraum abgeführt, um sie zum Mitmachen zu überreden.
Hitler und seine Truppen an der Seite der Polizei und noch wichtiger der Reichswehr in Bayern: Das wäre in der Tat eine reale Gefahr für die Weimarer Republik gewesen. Entscheidend für das Gelingen oder Scheitern des Putsches war, wie sich die drei überrumpelten Herren verhalten würden – passiv, aktiv oder gar destruktiv?
Nach etwa einer Stunde kam das Quartett aus dem Nebenraum in den Bürgerbräusaal zurück – und Hitler verkündete, dass er das Trio zum Mitmachen überredet habe. Applaus brandete auf, als Kahr in einer kurzen Ansprache erklärte, er werde „zu des Vaterlandes Bestem“ die „Leitung der Geschicke Bayerns als Statthalter der Monarchie“ übernehmen.
Bis heute wird kontrovers diskutiert, ob die Zustimmung eine Finte war oder ob das Trio anfangs wirklich überzeugt war, der Putsch sei eine Initialzündung für die Wiederherstellung der Monarchie oder irgendeiner Rechtsdiktatur – die sie ja geradezu herbeisehnten. Der Münchner Historiker Matthias Bischel geht aufgrund neu aufgefundener Tagebuch-Eintragungen Kahrs davon aus, dass dieser „den Umsturz wirklich von Anfang an ablehnte, sich aber mit allen Mitteln aus einer Zwangslage befreien und zudem genau abwägen musste, wann und wie er die beabsichtigte Gegenaktion einleiten konnte“.
Gleichwohl: Ein Rest Ungewissheit bleibt. Erstaunlich ist, dass Kahr nicht protestierte, obwohl die Putschisten noch in der Versammlung einige bayerische Minister und auch den Ministerpräsidenten von Knilling als Gefangene abgeführt hatten. Und er war sich, wie der Historiker Bernhard Wien betont, „nicht zu schade, die Glückwünsche des italienischen Konsuls entgegenzunehmen“. Auch der von Hitler zum Reichspolizeiminister ernannte Landespolizei-Chef Seißer freute sich über die Gratulation durch seine Frau. Aber das könnte alles vorgeschoben gewesen sein, um die Putschisten in Sicherheit zu wiegen.
Unvorbereitet waren die Putschisten nicht. In den Stunden zuvor hatten starke Rechtsverbände in den großen Münchner Gaststätten Quartier bezogen – teils unter dem Vorwand, auf eine Rede Hitlers zu warten. Die Anhänger der „Reichskriegsflagge“ des späteren SA-Führers Ernst Röhm etwa sammelten sich im Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz, der Bund Oberland im Hofbräukeller und der „Stoßtrupp Hitler“ im Thorbräu im Tal. Ob sich Hitler-Anhänger auch gegenüber im schmuddeligen Sterneckerbräu versammelten, ist nicht überliefert. Das Lokal war, wie der Stadthistoriker Benedikt Weyerer schreibt, eine „typische Münchner Gastwirtschaft der unteren Kategorie“ – und im Januar 1919 Gründungsstätte der Deutschen Arbeiterpartei, des Vorläufers der NSDAP. Hitler war am 12. September 1919 zu der Kleinpartei gestoßen und hatte sie rasch zu einem Machtfaktor in der Münchner Politik ausgebaut. 1923 hatte sie geschätzt 55 000 Mitglieder.
Die Gaststätten also waren fest in der Hand der wohl mehreren tausend Putschisten, die sich in der Nacht des 8. November in München sammelten. Wie aber sah es mit den weiteren logistischen Knotenpunkten aus?
Bei Weitem nicht so gut. So versäumten es die Nationalsozialisten, rasch den Münchner Hauptbahnhof unter ihre Kontrolle zu bringen – und in der Tat reisten einige bekannte Gegner der Nazis wie etwa der Rechtsanwalt Max Hirschberg, ein Jude, oder der Privatgelehrte Robert Hallgarten (Vater des Historikers George W. F. Hallgarten) noch in der Putschnacht ab. Auch eine Besetzung des Telegrafenamtes gelang nicht.
Um die Münchner Infanterie- und die Pionierkaserne entspann sich ein zähes Ringen – letztlich gelang es den Putschisten aber nur, die von Offiziersanwärtern besetzte Kriegsschule in der Blutenburgstraße in die Hand zu bekommen. Das war aber kein gewichtiger Faktor. Wichtiger wäre es gewesen, den Sitz des Generalstaatskommissariats in der Maximilianstraße – damals wie heute auch Sitz der Regierung von Oberbayern – zu besetzen. Das unterblieb, da Kahr ja offenkundig ohnehin auf Seiten Hitlers stand.
Etwas schwieriger war die Situation bei der Münchner Polizei in der Ettstraße. Viele Beamte waren stramm rechts, manche Mitglied der NSDAP. Einige beteiligten sich sogar aktiv am Putsch. So kontrollierte der Chef der Politischen Polizei VI N (Nachrichtendienst), Friedrich Glaser, nach Ende der Versammlung im Bürgerbräu die rausgehenden Besucher – angeblich war er gebeten worden, missliebige Personen festzunehmen. Glaser bestritt dies später. Politische Gegner, Sozialdemokraten oder Kommunisten, waren ohnehin nicht im Saal. Der – soweit bekannt – einzige Jude im Saal, der Industrielle Ludwig Wassermann, indes wurde trotz Protesten festgenommen.
Mehrere Polizisten schwärmten unterdessen an der Seite des Stoßtrupps Hitler in die Innenstadt aus. Am Altheimereck war die Redaktion der sozialdemokratischen „Münchner Post“, die vom Stoßtrupp unter Leitung des Polizisten Josef Gerum – der sich die Hakenkreuzbinde übergestreift hatte – verwüstet wurde. Darauf spielte auch der Schriftsteller Lion Feuchtwanger an, als er in seinem Roman „Erfolg“ schrieb, die „Wahrhaft Deutschen“ hätten „das Gebäude der verhassten Linkszeitung“ gestürmt und Maschinen und Setzkästen zerstört.
Interessanterweise schrieb Feuchtwanger auch, die Nazis hätten „an Hand einer schwarzen Liste Parteifeinde aller Art, Abgeordnete und Stadträte der Linken, Juden in gehobenen Stellungen“ verhaftet. Sie „schleppten die Gefangenen herum, unterhielten sie durch langsame, umständliche Erwägungen, wo und wie man sie am besten erledige, ob durch Hängen an diesen Baum oder an jenen Laternenpfahl, ob durch Erschießen an dieser Mauer oder an jenem Sandhaufen“. Ein Schriftsteller ist kein Staatsanwalt, er darf nach Belieben dichten und hinzufügen. Doch reine Erfindung war die Szene nicht. Tatsächlich schwärmten am Morgen des 9. November zwei Trupps des paramilitärischen Bunds Oberland ins Münchner Lehel und nach Bogenhausen aus. Sie hatten von ihrem Kommandeur Ludwig Oestreicher Befehle zur Verhaftung von Juden erhalten.
In München lebten damals – bei einer Einwohnerzahl von 680 000 – etwa 10 000 Juden. (zum Vergleich: so viele sind es heute auch wieder, allerdings bei einer Bevölkerungszahl von 1,5 Millionen). Die meisten Münchner Juden waren konservativ gesinnt, brave Bürger, nicht orthodox und im Straßenbild kaum auffällig. Wie also sollten Putschisten, die oft auch noch von außerhalb Münchens stammten, sie überhaupt finden?
Mit ihrem Befehl waren die Oberland-Leute, wenig überraschend, überfordert. „Schwarze Listen“ gab es – hier irrte Feuchtwanger – nicht. Stattdessen gingen die Geiselnehmer anders vor: Ein Unterführer namens Anton Gernert wurde im Hofbräukeller angewiesen, „mit 30 Mann in Bogenhausen mehrere angesehene Juden zu verhaften“ – Namen wurden nicht genannt, man sollte Adressbücher konsultieren. Ein zweiter Unterführer, Johann Kuchtner, erhielt den Befehl, „in der Prinzregenten- und Widenmayerstraße einflussreiche, hauptsächlich Ostjuden zu verhaften“. Kuchtner wies seine Leute an, „an den Türschildern jüdischklingende Namen festzustellen“; beide Gruppen verhafteten eine Reihe von Juden, allerdings gerieten auch Nicht-Juden ins Visier, weil die Identifizierung ja sehr ungewiss war. Sie wurden teils allein, teils in kleinen Gruppen, teils sogar mit der Straßenbahn (eine Geisel bezahlte das Ticket für seine Bewacher) Richtung Bürgerbräukeller transportiert. Manche wurden bedroht, manche aber auch nicht. Der Antiquar Wilhelm Heinz Maienthau, der vom Kuchtner-Trupp verhaftet worden war, gab der Polizei zu Protokoll: „Die Behandlung war ganz anständig, ich durfte mir auf dem Wege zum Bürgerbräukeller sogar Zigaretten kaufen.“ Unbescholtene Bürger gerieten so ins Visier der Putschisten – nur weil sie Juden waren. Ein Gefangener war auch Julius Deutscher, ein in der Ukraine 1886 geborener verheirateter Kaufmann mit vier Kindern, der in der Herzog–Rudolf-Straße eine Eisenwarenhandlung betrieb. Er wurde in seiner Wohnung in der Widenmayerstraße verhaftet und in den Bürgerbräu getrieben. Am 9. November kam er – wie auch alle anderen Geiseln – nach mehreren Stunden in Angst wieder unversehrt frei. Über das „Biografische Gedenkbuch der Münchner Juden“ lässt sich sein weiteres Schicksal rekonstruieren – und es stellt sich heraus: Letztlich erwischten ihn die Nazis doch: Deutscher kam in der Nazi-Zeit angeblich wegen eines betrügerischen Bankrotts in eine Haftanstalt, wurde dann nach Polen abgeschoben – und am 20. Januar 1940 in Warschau ermordet.
Zurück zum Hitlerputsch 1923: Neben den beiden Oberland-Trupps hatten sich auch zwei Einzelpersonen auf die Suche nach Juden gemacht: der Student Theodor Roth und der erst 18-jährige Walter von Weizenbeck. Roth war der Sohn eines „Promis“, des ehemaligen bayerischen Justizministers Christian Roth, der von der Putschregierung als Innenminister vorgesehen war (Lion Feuchtwanger porträtierte ihn im „Erfolg“ als Otto Klenk). Sein Sohnemann und dessen Freund wähnten sich im Recht, am Kufsteiner Platz einfach ein Auto beschlagnahmen zu dürfen. So kurvten sie als Zwei-Mann-Polizei durch München – auf der Suche nach Juden.