Garmisch-Partenkirchen – 1947 erschien im Mahnruf, einer österreichischen Zeitung politisch Verfolgter aus der NS-Zeit, ein kleines Inserat, nur elf Zeilen lang. „1938 kam in Feldkirch (Vorarlberg) Herr Dr. Michael Schnebel, Althistoriker, mit seiner Frau an“, hieß es darin. Des Weiteren wurde mitgeteilt, dass Schnebel damals in die Schweiz ausreisen wollte, „um Verfolgungen durch die Nationalsozialisten zu entgehen“. Da ihm dies nicht gelang, verübte Schnebel mit seiner Frau Selbstmord. „Das Ehepaar ist auf dem Friedhof in Feldkirch bestattet. Um Hinweise auf etwaige Verwandte oder Hinterbliebene werde gebeten – als Kontakt wurde die Israelitische Kultusgemeinde Wien angegeben.
Die Spurensuche nach Michael Schnebel führt nach Garmisch-Partenkirchen in die Waxensteinstraße 1. Sie führt aber auch zu einem begabten jungen Studenten in jener Zeit: Franz Josef Strauß. Und zu einem ehemaligen Gymnasiallehrer in Garmisch-Partenkirchen: Alois Schwarzmüller, der für die SPD früher im Gemeinderat saß, hat die Geschichte des Ehepaars Schnebel, in der auch Strauß eine Rolle spielt, schon vor bald 15 Jahren aufgeschrieben. Er hat sie sogar im Internet veröffentlicht. Dort fand sie aber nur wenige Leser. Was Schwarzmüller gar nicht so Unrecht war, denn auf etwaige Anfeindungen hatte er nun auch wieder keine Lust, sagte er heute. Im vergangenen Jahr jedoch hat Alfons Dür in der Vorarlberger Geschichtszeitschrift Montfort die Forschungen Schwarzmüllers mit weiteren Quellen aufgegriffen. Und Dür stellt Fragen, die bis heute offen sind.
In Garmisch-Partenkirchen wohnte Schnebel seit 1930 mit seiner Frau Emmy, nachdem er zuvor an der Münchner Universität als Althistoriker gelehrt hatte. Schnebels Buch „Die Landwirtschaft im hellenistischen Ägypten“ erschien 1925 in den „Münchner Beiträgen zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte“, es gilt bis heute als Standardwerk. Die Schnebels lebten ein unauffälliges Leben. Doch dann kam die Pogromnacht des 8./9. November 1938, die Nacht, in der in Deutschland die Synagogen brannten, unzählige Juden verhaftet, drangsaliert und ermordet wurden. Auch in Garmisch-Partenkirchen, so hat es Alois Schwarzmüller recherchiert, jagte ein Mob jüdische Bewohner aus ihren Häusern und trieb sie zum Adolf-Wagner-Platz, heute Marienplatz.
Am 10. November 1938 mussten die Juden unter Beschimpfungen und Schlägen auf dem Marktplatz ein Papier unterschreiben, dass sie – so der Wortlaut – „Garmisch-Partenkirchen mit dem nächsten erreichbaren Zug verlassen und nie wieder zurückkehren“. Auch den Schnebels erging es so. Im Spruchkammerverfahren gegen den früheren Kreisleiter Johann Hausböck sagte ein ehemaliger SA-Mann 1949 aus: „Als zweiten Auftrag hatte ich das jüd. Ehepaar Dr. Schnebel zur Bahn zu begleiten, um sie einerseits gegen Anpöbelungen des Publikums zu schützen, andererseits aber mich zu überzeugen, daß sie auch tatsächlich abreisten.“
Und die Schnebels reisten ab – nach Feldkirch. Dort mieteten sie ein Hotelzimmer im Vorarlberger Hof. Schnebel versuchte wohl verzweifelt, Papiere für einen Grenzübertritt in die Schweiz zu organisieren. In Österreich fühlte sich das Ehepaar nach dem „Anschluss“ an NS-Deutschland nicht sicher. Doch es scheiterte. Am 15. November 1938 informierte die Gestapo-Leitstelle Innsbruck das Bezirksamt Garmisch darüber, dass das Ehepaar Schnebel „am 14.11.1938 gegen 20 Uhr mit Veronaltabletten vergiftet im Hotelzimmer“ tot aufgefunden worden sei.
„Es ist das Beste, daß wir aus der Welt gehen“, so steht es im Abschiedsbrief, den der ehemalige Lehrer Schwarzmüller im Archiv gefunden hat. Weiter hieß es dort: „Wir haben uns getötet, wir halten es für besser, im Vaterland zu sterben, als in der Fremde zu verelenden. Wie Cicero bitten wir, in unserem Vaterlande sterben zu dürfen.“ Es war ein „bitteres Schlusswort“, so interpretiert es Alois Schwarzmüller.
Da Schnebel Wissenschaftler war, hatte er in seiner Wohnung etliche Bücher und vielleicht auch Papiere hinterlassen. Was damit nach seinem Tod geschah, ist ein besonders schäbiges Kapitel. Denn in Garmisch-Partenkirchen wurden öffentlich Hab und Gut vertriebener Juden – neben den Schnebels wohl zwei Dutzend Personen – meistbietend unter die Leute gebracht. Der Nachlass der Schnebels wurde auf 260 Seiten detailliert erfasst, 1218 Stücke versteigert. Darunter war auch die Bibliothek von Schnebel. Schwarzmüller weiß das, weil er vor Jahren von einem Murnauer ein altes Buch geschenkt bekam. Dieser hatte es von seinen Eltern, die damals offenbar bei der Versteigerung mitboten. Das Buch „Der Krieg von 1870/71, dargestellt von Mitkämpfern“ erschien um die Jahrhundertwende. Oben rechts auf der ersten Seite steht handschriftlich mit Tinte ein Name: Schnebel.
Nicht einmal zwei Wochen nach dem Tod der Schnebels wandte sich ein Student des Seminars für Alte Geschichte an der Uni München an die Ortspolizei. „Wie ich darauf hingewiesen wurde“, so schrieb etwas ungelenk cand. phil. Franz (Josef) Strauß, damals wohnhaft in der Münchner Schellingstraße 44/3. Stock, „hat in früheren Jahren am papyrologischen Seminar der Universität München der in der letzten Zeit in Garmisch, Waxensteinstr. 1, wohnende Jude Dr. Schnebel gearbeitet und dabei wissenschaftliches Material gesammelt, das von Wert sein könnte. Da nun Grund besteht zur Annahme, daß der Jude nicht mehr in Deutschland weilt und seine Wohnung der Beschlagnahme verfällt, richte ich für das papyrologische Seminar an sie das Ersuchen, ob erwähntes Material, das für Laien völlig wertlos ist, dem papyrolog. Seminar der Universität München zu übermitteln.“ Strauß erwähnte Zettel und Notizen, „die in Karthothekkästen und Zigarrenkisten“ aufbewahrt würden. Der Brief, der im Marktarchiv Garmisch-Partenkirchen liegt, schloss mit dem obligatorischen „Heil Hitler!“, gezeichnet von Franz Strauß, weltanschaulicher Referent des Sturmes 23/M86 – Strauß war Mitglied im NS-Kraftfahrkorps.
Wie kam Strauß an diese Informationen? Das hat sich auch Wolfgang Wegner vom Lehrstuhl für Ägyptologie an der Uni Würzburg gefragt. Er kommt zum Schluss, dass Strauß durch seinen Doktorvater Prof. Walter Otto auf Schnebel aufmerksam geworden war. Pläne für eine Doktorarbeit des späteren CSU-Politikers zerschlugen sich später, Strauß gab an, ein bereits weit fortgeschrittenes Manuskript sei im Krieg verbrannt. Wegner nimmt an, dass das Interesse Ottos vor allem Vorarbeiten Schnebels für einen zweiten Band seiner Agrargeschichte Alt-Ägyptens gegolten hat. Den Tonfall des Strauß-Briefes nennt er „wenig erbaulich“. Es könne „Mittel zum Zweck“ sein. Strauß, sagt Wegner, ging es wohl nicht ums „Arisieren“, eher um Erfüllung eines wissenschaftlichen Auftrags.
Was wurde aus dem Antrag? Gelangte der wissenschaftliche Nachlass Schnebels – Manuskripte, Notizen – wirklich in das Papyrologische Seminar der Uni München? Das ist bis heute nicht zu klären. Das damalige Institut ist heute Teil des Leopold-Wenger-Instituts für Rechtsgeschichte. „Aus dem Nachlass von Michael Schnebel ist hier nichts vorhanden“, berichtet der heutige Lehrstuhl-Inhaber, Prof. Johannes Platschek. Ein Grund könnte sein, dass die Instituts-Bibliothek – 9000 Bücher – im Sommer 1944 in das Schloss Wässerndorf/Mainfranken ausgelagert wurde, aber in den letzten Kriegstagen von den Amerikanern als Vergeltung für den Mord an einem US-Soldaten mit dem ganzen Schloss in Brand geschossen wurde. Elf Kisten mit Büchern und Material verbrannten damals. Es gibt zwar einen Index darüber, welche Bücher und welches Material ausgelagert wurden. Er enthält jedoch keinen Hinweis auf Schnebel. Vielleicht ist der Antrag von Strauß auch einfach wirkungslos verpufft. Man weiß es nicht.
Da die Schnebels kinderlos waren, erbte eine angeheiratete „arische“ Verwandte, Magdalena Boese aus Berlin, nach Abzug einer „Judenvermögensabgabe“. Sie erreichte 1949, dass die sterblichen Überreste der Schnebels auf den jüdischen Friedhof Hohenems (Vorarlberg) überführt wurden. Die Lage des einstigen Grabes ist trotz Recherchen des Autors Dür nicht mehr zu ermitteln. Dem Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ist nicht bekannt, dass sich nach dem Aufruf im „Mahnruf“ jemand bei der Israelitischen Kultusgemeinde gemeldet hat.