Das Pflege-Paradies

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

München – Ursel liebt es, wenn es vormittags so bunt zugeht. Sie sitzt vor einem Haufen Bastelpapier, das sie mühevoll in kleine Stücke gerissen hat. Jetzt beginnt der Teil, der am meisten Spaß macht. Mit schwungvollen Pinselstrichen kleistert sie das Blatt Papier vor sich mit Leim ein und klebt die kleinen bunten Fetzen darauf fest. Und während die 70-Jährige klebt, erzählt sie. Zum Beispiel von früher, als sie noch als Helferin im Kindergarten und später in der Behindertenwerkstätte gearbeitet hat. Oder von der Zeit, als ihre Mutter noch lebte und sie jeden Freitag in den Zirkus gefahren hat. Steffi sitzt neben ihr – und kennt die meisten Geschichten schon. Denn sie ist schon ihr ganzes Leben mit Ursel befreundet.

Die beiden Frauen haben eine spastische Lähmung. Sie leben mit 58 weiteren Personen in dem dualen Wohnheim für körper- und mehrfachbehinderte Erwachsene des Münchner Förderzentrums in Freimann. Die Einrichtung gehört zur Stiftung ICP München. Und die hat gemeinsam mit dem Bezirk Oberbayern 2017 ein bayernweit einzigartiges Pilotprojekt angestoßen. Für Menschen mit Behinderung gibt es bisher kaum Pflegeangebote. Die Nationalsozialisten hatten im Dritten Reich hunderttausende Menschen mit Behinderung ermordet – deshalb ist es die erste Nachkriegsgeneration, die nun ins Seniorenalter kommt. Spezielle Heime gibt es für sie bislang nicht. Deshalb war Heimleiterin Nadja Geschke sofort aufgeschlossen, als der Stiftungsvorsitzende Thomas Pape sie vor sechs Jahren ansprach, um sie für das Modellprojekt ins Boot zu holen.

Seitdem ist in dem Seniorenheim in Freimann viel passiert. Das Durchschnittsalter der Bewohner liegt bei 54 Jahren. Es sind Menschen wie Ursel, die schon mit einer spastischen Lähmung oder einem anderen Handicap zur Welt kamen. Aber auch Menschen, die seit einem Unfall oder durch Erkrankungen wie Parkinson oder einem Schlaganfall mit körperlichen Einschränkungen leben müssen. Sie alle werden hier nicht nur gepflegt, sondern auch adäquat betreut. „Menschen mit Einschränkungen brauchen auch im Alter eine besondere Art der Betreuung“, erklärt Petra Lorenz, die das heilpädagogische Team in der Einrichtung leitet. Seniorenheime könnten das mit den knappen Personalschlüsseln kaum leisten. Außerdem sind schwerbehinderte Menschen im Alter deutlich kränker, sie haben einen höheren Pflegebedarf. Sie brauchen die umfassende Betreuung, die sie schon ihr ganzes Leben benötigt haben.

Hier in Freimann kommen auf 60 Bewohner 50 Pflegekräfte und 19 Betreuer. Während den Bewohnern in herkömmlichen Pflegeheimen 16 Minuten Einzelbetreuung pro Tag zusteht, sind es in dem dualen Wohnheim mehrere Stunden pro Tag. Und das sieben Tage die Woche. Für jeden Bewohner gibt es angepasst täglich Bewegungs- und mentale Trainingsprogramme, Spiele, Musik und kreative Beschäftigungsangebote. Finanziert werden kann das durch die Eingliederungshilfe, die Menschen mit Handicap zusteht, damit sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Die wird vom Bezirk Oberbayern getragen. Die Bewohner haben dreimal pro Woche Therapie. Das sei auch sehr wichtig, erklärt Lorenz. Bei Menschen mit spastischer Lähmung oder Schlaganfallpatienten müsse der Schluckreflex ständig trainiert werden – sonst droht ihnen die Zwangsernährung. Gleichzeitig stellen Heimleiterin Geschke und ihr Team immer wieder fest, wie viel das Gehirn nach einem Unfall oder einer Hirnblutung wieder lernen kann, wenn es intensiv trainiert wird. Ohne dieses Angebot würden einige Menschen als Schwerstpflegefall in einem Seniorenheim landen – manche Jahrzehnte bevor sie das Rentenalter erreichen.

„Wir träumen von großen Reisen, wenn wir in Rente gehen“, sagt Petra Lorenz. Für die Menschen mit Behinderung gebe es solche Träume nicht. Umso schöner wollen die Pflegekräfte und Betreuer ihren Alltag gestalten. Steffi hat sich heute Morgen gewünscht, geschminkt zu werden. Auch dafür ist hier Zeit. Ursel hat sich von einer Pflegekraft ihren geliebten Ohrringe mit den kleinen Anhängern anlegen lassen. Die beiden Freundinnen verbindet auch ein Hobby. Sie lieben Shopping. Regelmäßig fahren die Betreuer mit ihnen in die Innenstadt. Auch Ausflüge ins Museum oder in den Zoo gehören für die Bewohner hier zum Alltag. „Vielleicht fahren wir nächstes Jahr sogar einmal in den Zirkus“, sagt Ursel. Für sie wäre das wertvoller als eine Reise.

Die 60 Plätze in Bayerns erstem dualen Wohnheim waren schnell belegt. „Unsere Warteliste ist sehr lang“, sagt Heimleiterin Nadja Geschke. Und sie wird wohl weiter wachsen. „Der Bedarf an Einrichtungen für Senioren mit Behinderung wird in den kommenden Jahren riesig steigen“, sagt sie. „Und unser Pflegesystem ist darauf nicht vorbereitet.“

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