Der Hüter der vergessenen Almen

von Redaktion

Florian Kastner erkundet und dokumentiert seit 20 Jahren die Berchtesgadener Bergwelt

VON KILIAN PFEIFFER

Berchtesgaden – 17 prall gefüllte Ordner zieren die Schränke von Florian Kastner. Handschriftlich und mit hunderten Fotos hat er darin die Standorte aller Almen des Berchtesgadener Talkessels notiert – die noch vorhandenen und die verfallenen. Eine vergleichbare Dokumentation gibt es nicht. Der Heimatforscher analysiert seit fast 25 Jahren, welche Mühen und Strapazen die Vorfahren auf sich nahmen. „Alte Berchtesgadener Almen und Almgeschichten“ – so heißt der 210 Seiten dicke und mit hunderten Bildern versehene Schmöker. Seine Bibliothek ist gewaltig. Etliche Berchtesgaden-Bücher stehen hier nebeneinander.

Mit vier Jahren war der 38-Jährige mit seinen Eltern das erste Mal auf dem Untersberg. „Seit ich denken kann, bin ich in den Bergen.“ Er arbeitet im Salzbergwerk als Hauer unter Tage. Aber wann immer das Wetter es zulässt, zieht es ihn in die Berge – am liebsten allein. Sein Ziel: abgelegene Plätze. Er sucht alte Almen und deren Standorte.

Kastners Urgroßvater stammte aus dem Krennlehen in Schönau am Königssee. Er war eines von 16 Geschwistern. Das Almleben seiner Vorfahren hat ihn schon immer interessiert. Ende der 1990er-Jahre begann er damit, alte Almen und Hütten zu vermerken. Einst gab es davon sehr viele. Etliche sind mittlerweile verschwunden, wurden abgerissen – oder die Natur hat sich den Standort zurückgeholt. Das Internet war noch nicht so ausgereift, sagt Kastner. Den Bayernatlas, in dem Karten und Luftbilder des Freistaats gesammelt sind, gab es noch nicht. Nur alte Papierkarten und Holzstiche mit Verweisen zu ehemaligen Standorten von Almen.

Dort, wo Überreste auf alte Bauten schließen lassen, setzte Kastner an. Er forschte in der Literatur, stellte Zusammenhänge her, notierte Erkenntnisse. Heute sagt er: „Ich kenne so gut wie jedes Gebäude in den Bergen, das mal existierte.“ Er hat Verzeichnisse angelegt, sauber handschriftlich, an einen Druck erinnernd. Ehemalige Jagdhütten hat er kartografiert, Holzstuben für Waldarbeiter, die Almen des Berchtesgadener Talkessels vom Untersberg bis zum Steinernen Meer im Lattengebirge. Die 17 Ordner sind eine wissenschaftliche Aufarbeitung, die über 20 Jahre in Anspruch nahm. Hunderte Hütten, Kaser und Stuben hat er gefunden und alles dazu niedergeschrieben.

„Wir hatten mal ein reichhaltiges Almgebiet“, sagt Kastner. Zum Funtensee gehörten etwa mehr als 15 Almen. In Berchtesgaden gab es eine eigene Rinderrasse, die kleinwüchsigen Berchtesgadener Katzen, die dank ihres geringen Gewichts und absoluter Schwindelfreiheit auch schwierige Steige meistern konnten. Die höchsten bestoßenen Almen lagen auf mehr als 2150 Metern. Heute treibt in Berchtesgaden kein Landwirte sein Weidevieh mehr so weit nach oben. „Ich habe eine große Sympathie für unsere Landwirtschaft“, betont Kastner. „Das sind unsere Kulturpfleger.“ Gäbe es sie nicht mehr, würde alles zuwachsen und verschwinden.

In den vergangenen Jahrzehnten ist diese Befürchtung häufig eingetreten. Deshalb fordert er von Wanderern und Radfahrern mehr Rücksicht gegenüber den Almbauern. Florian Kastner hat sich mit vielen alten Almbauern unterhalten, mit Sennern, Landwirten und Archivaren, die ihm aus der Vergangenheit berichteten. Dabei ist er auch auf Kuriositäten gestoßen: Neun Almbauern bewirtschafteten die bereits verfallene Oberlahneralm auf 1400 Metern. Sie liegt auf dem Gebiet des heutigen Nationalparks Berchtesgaden. „Jedes Jahr war ein anderer Almbauer dran.“ Es war schriftlich geregelt, wer das Vieh wann hochtrieb – nur alle neun Jahre kam der Landwirt dran.

Die Suche nach Almen und Kasern hat Florian Kastner abgeschlossen. Die Erkenntnisse und hunderte Fotos stecken nun in Ordnern. Was er damit noch vorhat? Mal sehen, sagt Kastner. Gut möglich, dass die Aufzeichnungen noch nützlich werden.

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