Zukunftsträume statt Mathe-Frust

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

Pullach – Heute hat es Agoziem mit Herrn Kögl und dessen rechteckigem Gemüsebeet zu tun. 32 Meter Zaun, das Beet ist vier Meter breit – aber wie lang ist es? Der Neunjährige sitzt hochkonzentriert vor der Matheaufgabe, die er als Hausaufgabe bekommen hat. Allein würde er lange nach der Lösung suchen. Aber er hat Niklas neben sich, seinen 15-jährigen, ziemlich coolen Nachhilfelehrer, der mit ihm seit drei Wochen das Einmaleins trainiert. Die Vierer-Reihe beherrscht Agoziem längst – und trägt eine Zwölf als Lösung ein.

Agoziem kommt jeden Freitagnachmittag nach Schulschluss noch einmal in sein Klassenzimmer in der Grundschule in Pullach im Kreis München zurück. Nicht, weil er so gerne Beet-Längen berechnet – sondern, weil er in der zweiten Klasse genau damit große Probleme hatte. Sein Vater hatte erfahren, dass die Stiftung Startchance in Pullach Unterstützung für Kinder anbietet, die mit dem Unterrichtsstoff Probleme haben. Er meldete Agoziem an – so hat der Neunjährige Niklas kennengelernt. Der geht in die 10. Klasse des Gymnasiums – und erinnert sich noch gut daran, dass er früher selbst Probleme hatte, das Einmaleins zu lernen. Mit viel Geduld übt er mit Agoziem Woche für Woche. Und wenn die Hausaufgaben so schnell geschafft sind wie an diesem Nachmittag, bleibt sogar noch Zeit, für die Fahrradprüfung zu lernen, die Agoziem bald vor sich hat.

Niklas ist nicht der einzige Jugendliche, der für ein kleines Taschengeld mit den Pullacher Grundschülern lernt. Knapp zehn Jugendliche haben sich bei der Lehrerin Claudia Wolf gemeldet. Und die ist froh darüber. „Die Warteliste ist bereits lang“, sagt sie. Obwohl Startchance erst seit einem knappen Jahr in Pullach Schüler unterstützt. Im Kreis Starnberg, in Geretsried und in Schäftlarn gibt es dieses kostenlose Angebot schon länger. Gefördert werden Kinder und Jugendliche, die aus benachteiligten Verhältnissen kommen. Einige haben einen Fluchthintergrund, andere kommen aus bildungsfernen Familien – oder haben keine Eltern, die ihnen zu Hause mit dem Schulstoff helfen können. Die Schüler werden von Pädagogen und Schüler-Coaches unterstützt, ihre Stärken zu entwickeln. Ziel der Stiftung ist es, dass auch benachteiligte Kinder eine echte Chance erhalten.

Für Agoziem fühlen sich die Freitagnachmittage nicht wie Nachhilfe an. Er mag Niklas und findet es toll, dass ein 15-Jähriger sich so viel Zeit für ihn nimmt. Außerdem hat er sich von seiner 4 in Mathe schon auf eine 3 hochgearbeitet. Und er hat hier neue Freunde gefunden. Denn in den anderen Klassenzimmern der Grundschule wird ebenfalls gelernt. Die 15-jährige Pauline hilft Asma gerade dabei, den Satzaufbau zu verstehen. Die Zehnjährige denkt sich Sätze aus, Pauline schreibt sie auf und Asma muss danach das Verb, das Substantiv und das Adjektiv finden und in unterschiedlichen Farben unterstreichen. Das mit den Adjektiven fällt ihr manchmal schwer. Pauline hat ihr beigebracht, dafür die Wie-Frage zu stellen. „Wie fliegen die Vögel?“, fragt sie. „Schnell“, sagt Asma, lächelt und unterstreicht das Wort.

Währenddessen bringt die Koordinatorin Claudia Wolf einen Teller mit Obst. Auch das gehört zu den Lernnachmittagen. Die Schüler sollen nicht nur büffeln, sondern auch lernen, wie das Lernen leichter fällt. Mit gesunden Snacks und kleinen Pausen. Deshalb wird manchmal auch zusammen gespielt am Ende des Nachmittags. Ab und zu veranstaltet die Stiftung Startchance auch Sport-Wettkämpfe oder gemeinsame Ausflüge. „Viele Kinder kommen nie raus“, erklärt Wolf. Dieses Angebot ist für sie etwas Besonderes. Wolf findet es schön zu sehen, wie aus dem Lernfrust bei den Kindern Ehrgeiz wird – und wie die Beziehungen der jugendlichen Lehrer zu den Kindern von Woche zu Woche intensiver werden. Claudia Wolf ist überzeugt: „Sie bereichern sich gegenseitig.“

Benachteiligte Kinder sollen eine Chance bekommen

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