Der Kalender sagt: Spätherbst 2023. Das Gefühl sagt: immer noch Februar 2022. Jeden Tag gibt es schreckliche Nachrichten aus meiner Heimat. Das alles ist nicht mehr so beängstigend wie die Erkenntnis, dass der Krieg schon unerträglich lange andauert. Letzte Woche griff die russische Armee nachts die südlichen Regionen mit Raketen und Drohnen an. Zurück blieb ein riesiger Sprengtrichter im historischen Zentrum von Odessa. 20 Häuser und sechs Baudenkmäler wurden beschädigt, acht Menschen verletzt. Jede Rakete kostet Millionen, die für die Entwicklung des eigenen Landes ausgegeben werden könnten. Dieser Krieg hat meine Eltern mit Sicherheit eines gelehrt: zu leben – in vollen Zügen. Vor ein paar Tagen wurde meine Mutter 60 Jahre alt. Meine Eltern haben in einem Restaurant gefeiert. Auch wenn es nur wenige Stunden bis zum Beginn der Ausgangssperre waren. Sie schieben ihr Leben nicht mehr auf die lange Bank. Niemand weiß, was der morgige Tag bringt.
Es ist erstaunlich, wie schnell ich mich an mein neues Leben in Deutschland gewöhnt habe. Ein halbes Jahr lang machte ich mir große Sorgen darüber, was passieren wird, wenn meine Aufenthaltserlaubnis abläuft. Natürlich will ich, dass der Krieg so schnell wie möglich endet. Aber ich möchte nicht mehr zurück. Kürzlich erfuhr ich, dass die EU den vorübergehenden Schutz von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine bis März 2025 verlängert. Für ein weiteres Jahr habe ich die Chance, in Sicherheit zu leben und zu arbeiten. Freude und Beruhigung wechseln sich häufig ab mit Besorgnis und Angst. Und das liegt nicht nur am Krieg in meinem Land.
Ich verfolge die Diskussionen in Deutschland über Flüchtlinge. Sie wird zunehmend radikaler. Ich kenne die Gründe dafür und verstehe die Ängste vieler deutscher Bürger vollkommen. Nur denke ich, es ist wichtig dabei nicht zu verallgemeinern. Nicht alle Flüchtlinge leben hier von Sozialleistungen und wollen sich nicht integrieren und arbeiten. Mir fällt ein Beispiel aus den letzten Tagen ein. Ich hatte das Glück, das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik besuchen zu können. Wissenschaftler aus aller Welt führen dort im Testreaktor Experimente durch. Sie verbessern die Kernfusionstechnologie, die in Zukunft fossile Energien ersetzen und Energieprobleme lösen könnte. Unter den Mitarbeitern des Instituts sind auch Ukrainer. Die meisten von ihnen leben und arbeiten schon seit vielen Jahren in Deutschland. Doch einige sind vor dem Krieg geflohen und haben bereits leitende Positionen in diesem Forschungsinstitut. Mit ihren Leistungen fördern sie die deutsche Wirtschaft und Wissenschaft. Deutschland wird nur noch stärker. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Wichtigste bei der Debatte über Flüchtlinge ist, nicht zu pauschalisieren. Jeder Fall muss individuell betrachtet werden. Jeder Mensch ist anders.