Unsere Kindheit in den Fünfzigern

von Redaktion

Schiefertafel, Rock’n’Roll und die erste Blue Jeans: Fotografin öffnet einzigartiges Bildarchiv

München – Heidi Fruhstorfer hütet einen Schatz. Sie besitzt tausende Fotos – allesamt sind sie Zeugen längst vergangener Zeiten. Die 81-Jährige sitzt in ihrem Wohnzimmer in Ramersdorf und stöbert in einer Kiste voller Schwarz-weiß-Bilder. Bei manchen weiß sie, wer hier wann und wo aufgenommen wurde. Auf anderen bleiben die Menschen anonym.

Wie die zwei Kinder auf dem Foto, das Fruhstorfer aus einem ihrer zig Alben zieht. Das Mädchen im gestreiften Pullover umarmt einen Bub, der sich verlegen ein Stoff-Hündchen an die Wange hält. „Ich weiß nichts über sie, mag das Bild aber trotzdem sehr“, sagt Fruhstorfer. Wie unzählige andere Fotos stammt auch dieses vom Flohmarkt oder aus dem Sperrmüll. Oder es wurde Fruhstorfer oder ihrem Ehemann Georg (1915–2003) einfach mal als Teil eines Stapels alter Bilder geschenkt.

Der Schatz des Fotografen-Paares besteht heute aus 20 000 Bildern – aus eigenen Motiven, Bildern von Kollegen und jenen aus unbekannter Hand. Das Besondere: Sie zeigen den Alltag der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg, den Wiederaufbau und gesellschaftlichen Wandel, aber auch das Festhalten an Tradition und Brauchtum. Georg Fruhstorfer war damals schon als Foto-Journalist in München und Bayern unterwegs. Heute ist sein Foto-Archiv digitalisiert im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek.

Heidi Fruhstorfer hat zum zwölften Geburtstag ihre erste Kamera geschenkt bekommen. Als Jahrgang 1942 schwelgt sie beim Stöbern in den Fotos in eigenen Erinnerungen. In ihrem neuen Bildband „Kindheit und Jugend in Bayern“ zeigt sie Fotos von Kindern in der Nachkriegszeit und den 1950er-Jahren – von ihrer eigenen Generation: „Je älter ich werde, desto wacher wird die Erinnerung an meine Kindheit. Die Fotos sind Zeitreise und Erinnerungsstütze in einem.“

Ein eigenes Zimmer voller Spielzeug gab es damals nicht. „Familien lebten sehr beengt. Das Leben von uns Kindern spielte sich eher auf der Straße ab.“ In Fruhstorfers Fall in der Kreittmayrstraße in der Münchner Maxvorstadt. Davor hatte ihre Familie in einer Baracke in der Thalkirchner Straße gelebt.

„Weil wir keine Puppe hatten, haben wir mit dem Baby der Nachbarin gespielt“, erzählt sie. Nach dem Krieg waren viele Häuser zerstört. Kinder spielten mit allem, was sie fanden. Das Viertel war ein Erlebnispark, während die Eltern am neuen Leben werkelten. „Strawanzen war unsere Lieblingsbeschäftigung“, sagt Fruhstorfer. „Wir waren eine bunte Truppe: Kinder von Münchnern, Ausgebombten, Geflüchteten und Heimatvertriebenen.“

In der Schule ging es rauer zu. „Manche Lehrer waren brutal, sie hatten teils noch in der Kaiserzeit gelehrt.“ Wer am Ohrwaschl gezogen wurde, hatte Glück. Der Spanische Stock hat auf den Lederhosen der Buben laut geschnalzt. „Nicht denken, du sollst tun, was ich sage“, habe ein Lehrer mal erklärt. „Klar, dass die Jugend bald ihr eigenes Ding gemacht hat“, sagt Fruhstorfer.

Etwa in Sachen Mode. „Die erste Blue Jeans bekam ich mit 14. In der Schule durfte ich sie nicht tragen, da waren Mädchen in Hosen ungern gesehen.“ Auf Bergtouren hat sie den Rock sofort abgelöst. Zum Wandern radelte Fruhstorfer mit ihrer Schwester von München bis zum Blomberg – bis Freunde der Familie sich ein eigenes Auto anschafften und sie bei ihnen mitfahren durften.

Was Fruhstorfer sieht, wenn sie die Bilder anschaut? „Große Bescheidenheit und Freude an den kleinen Dingen. Wir waren damals freiheitsliebend und unkompliziert. Zu jeder Schandtat bereit – aber auch höflich.“

CORNELIA SCHRAMM

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