Reichertshausen – Freitag, 14.15 Uhr im ICE 703 von Berlin nach München. Sonja Gibis schaut von ihrem Buch auf, sie sieht einen Regionalzug seitlich auf sich zukommen. „Der RE wollte offenbar auf unser Gleis fahren“, sagt die Journalistin.
Sie hört einen Knall. Die Regionalbahn am Bahnhof Reichertshausen (Kreis Pfaffenhofen an der Ilm) und der ICE streifen sich. Ein paar Augenblicke lang steht der ICE schief. „Wir hatten Angst, unser Zug könnte umkippen.“ Dann fällt er zurück aufs Gleis, der Strom fällt aus. Kurz darauf kommt den kollidierten Zügen ein ICE aus München entgegen. Dank Vollbremsung kommt er rechtzeitig zum Stehen.
„Am meisten stört mich die Desinformation“, sagt Gibis zwei Tage nach dem Unfall. Eine Stunde habe es keinerlei Informationen gegeben – bis auf die Durchsage: „Es kam zu einem unvorhergesehenen Halt.“ Einige Fahrgäste halten ihr Handy ans Fenster, um kurz Empfang zu bekommen: „Wir haben versucht, uns ein Bild zu machen, was überhaupt passiert ist.“ Sie hören Rettungshubschrauber, machen sich Sorgen um die Menschen im Regionalzug, um den Lokführer. „Die Leute hatten das Unglück von Eschede vor Augen.“
Nach einer Stunde übernimmt ein Krisenmanager der Bahn. Bis Sonja Gibis und rund 700 Fahrgäste den Zug verlassen können, vergehen zweieinhalb Stunden. Sie werden in die Ilmtalhalle in Reichertshausen gelotst, von Sanitätern und THW mit Getränken versorgt. Sieben Menschen wurden leicht verletzt, zwei davon laut einer Sprecherin der Bundespolizei ins Krankenhaus gebracht. Manche werden von Angehörigen abgeholt. Für andere Fahrgäste beginnt eine Odyssee: „Die Leute wussten teilweise nicht, wo wir sind“, sagt Gibis. Der Ersatzbus-Fahrer findet den Bahnhof Petershausen nicht auf Anhieb. Erst um 22 Uhr ist Gibis zuhause.
Ob ein technischer Defekt oder ein menschlicher Fehler den Unfall verursacht hat, war am Sonntag weiter unklar. Die Bundespolizei ermittelt laut einer Sprecherin wegen Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr. Die Lokführer und der Fahrdienstleiter werden aber nicht als Beschuldigte, sondern als Zeugen geführt. Sie waren bis zum Wochenende aber noch nicht vernommen worden.
Beide Züge wurden in die Werkstatt überführt. „Im Moment ermitteln die Behörden“, bestätigte am Sonntag ein Bahnsprecher. „Es wird sicherlich auch eine interne Untersuchung geben.“ Eines von vier Gleisen am Bahnhof Reichertshausen bleibt gesperrt – auch weil der Unfallort weiter untersucht wird. Züge in beide Richtungen werden über die übrigen Gleise geleitet, deshalb kommt es auch in den kommenden Tagen noch zu Verspätungen.
Bahn-Experte Markus Hecht, Leiter des Fachgebiets Schienenfahrzeuge an der TU Berlin plädierte am Sonntagnachmittag für einen besseren Schutz vor derartigen Kollisionen, etwa mit einer „Entgleisungsweiche“. Dieser Typ von Weiche bringt Züge, die unvorhergesehen auf ein Hauptgleis fahren, vor einer Kollision zum Entgleisen. Das sei aber in Deutschland bisher nicht zugelassen.
Gibis hat keine äußerlichen Verletzungen. Doch der Schock sitzt tief: „Ich bin so froh, dass die Knochen heil sind! Aber mein Vertrauen in die Bahn ist erschüttert. In den nächsten Monaten setze ich mich in keinen Zug.“
TINA SCHNEIDER-RADING