Zugunfall: Regionalbahn kam ins Rutschen

von Redaktion

Bundesbehörde soll Hintergründe einer Flankenfahrt am Bahnhof Reichertshausen ermitteln

VON DIRK WALTER

München – Es ist ein Unfall mit vielen Fragezeichen. Am Freitag, 17. November, kam es im Bahnhof von Reichertshausen (Kreis Pfaffenhofen) zu einer sogenannten Flankenfahrt: Ein ICE schrammte an einer Regionalbahn vorbei, deren Führerstand ins Gleis hineinragte. Es war knapp, sagen Beteiligte. Wäre der rote Regionalzug nur einen halben Meter weiter gefahren, hätte es ein Zugunglück gegeben – mit wahrscheinlich schlimmen Folgen.

Mittlerweile ermittelt die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU). In einer ersten Mitteilung stuft die BEU die Kollision als gefährliches Ereignis ein und schreibt sogar von einer „Zugentgleisung“ – was Sprecher Gerd Münnich auf Nachfrage unserer Zeitung korrigiert. „Es kam zu keiner Zugentgleisung.“ Aber es war knapp: Der ICE schrammte bei hohem Tempo – 80 bis 100 km/h – an der Regionalbahn entlang, sodass es den Zug kurz anhob, die Räder der ersten Waggons also kurz den Kontakt zur Schiene verloren, ehe er zum Stehen kam. Das deckt sich mit Schilderungen von Insassen im ICE Nummer 703, die berichten, dass der Zug ein paar Augenblicke lang schief stand. „Wir hatten Angst, unser Zug könnte umkippen.“ Dann sei er zurück aufs Gleis gefallen. Ein entgegenkommender ICE (Nummer 624) Richtung Ingolstadt konnte bremsen, es kam zu keiner Berührung.

Wie konnte es aber überhaupt zur Flankenfahrt kommen? Am Bahnhof Reichertshausen sind vier Gleise (siehe Grafik), zwei Durchfahrtsgleise für die Schnellfahrstrecke München–Ingolstadt in der Mitte, zwei Gleise außen führen zu den Bahnsteigen. Gegen 14.08 Uhr kam aus Ingolstadt mit leichter Verspätung die Regionalbahn RB 16 zur Weiterfahrt nach München an. An der Spitze des Triebzuges im Führerstand: zwei Lokführer, ein Ausbilder und ein Quereinsteiger, der gerade geschult wird. Das einen Kilometer lange Bahnsteiggleis von Reichertshausen ist auch für lange Güterzüge gedacht, die überholt werden sollen. Die RB 16 fuhr auf diesem Gleis mit etwa 50 km/h auf den Bahnsteig zu, der erst am Ende des Überholgleises liegt. Doch dann hielt der Zug nicht wie geplant, sondern rutschte am Bahnsteig vorbei über eine Weiche bis kurz vor das Durchfahrgleis. Der Grund ist unklar. Entweder es wurde schlicht zu spät gebremst. Oder aber es wurde unterschätzt, dass die Schienen im Herbst nass, vielleicht auch mit Laub bedeckt und schmierig sind.

Mit dem Zug durchzurutschen, ist für einen Lokführer peinlich. Aber eigentlich nicht gefährlich. Es gibt sogar einen Fachausdruck: den Durchrutschweg, kurz D-Weg. Eine Weiche am Ende des Bahnhofs Reichertshausen wird bei Einfahrt des Zuges sogar extra auf den D-Weg gestellt, damit nichts passiert. Erst wenn der Zug am Bahnsteig steht, schaltet die Weiche um, die Weichenzunge führt dann in Richtung eines kurzen Stummelgleises, das an einem Prellbock endet. So soll verhindert werden, dass ein Lokführer, der auf eine Zugüberholung warten soll, irrtümlich zu früh losfährt und es zur Katastrophe kommt.

Tatsächlich war auch für die RB 16 eine Überholung vorgesehen. Gegen 14.10 Uhr näherte sich mit hohem Tempo – 150 km/h – der ICE 703 auf dem Weg von Berlin nach München. Erst am Beginn des Bahnhofs sah der ICE-Lokführer die Regionalbahn und leitete eine Schnellbremsung ein. Das konnte den seitlichen Aufprall nicht verhindern, wohl aber dämpfen. Es gab sieben Leichtverletzte, darunter der ICE-Lokführer.

Nun stellen sich Fragen: Warum hatte der ICE freie Fahrt? Sobald der D-Weg im Bahnhof gestellt ist, schalten Vor- und Hauptsignal der Schnellstrecke einige Kilometer vor dem Bahnhof auf Halt. In diesem Fall kam es jedoch zu einer ungünstigen Konstellation: Der vordere Teil des Regionalzuges mit dem ersten Drehgestell zeigte Richtung Hauptgleis, das hintere Drehgestell jedoch in Richtung Stummelgleis. Die Weiche hatte sich wohl nach Stillstand der Regionalbahn umgestellt – was die Durchfahrerlaubnis für den ICE erklären würde. Warum dann andere technische Sicherungen nicht griffen, muss die BEU beantworten.

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