Taufkirchen – Es ist eine Operation am schlagenden Herzen: Ein ganzes Quartier in der Taufkirchener Siedlung am Wald im Kreis München soll erneuert werden, bevor der seit Jahren fortschreitende Verfall immer weiter um sich greift. Doch nach vielversprechenden Anfängen wächst in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass das Mammutprojekt ins Stocken geraten ist. Noch immer ist kein Bebauungsplan in Sicht.
Dabei drängt die Zeit: Der Exodus der Gewerbemieter hat begonnen, die Unternehmen werden dem neuen Quartier fehlen. Die bisweilen kolportierte Theorie, hier streue jemand aus privaten Motiven Sand ins Getriebe, hält man im Gemeinderat für unzutreffend. Doch wer sich mit den Ratsmitgliedern der 18 000-Seelen-Gemeinde unterhält, fördert schnell ein anderes Problem zutage: Angesichts der schieren Größe des Projekts hat so mancher Entscheidungsträger Angst vor der eigenen Courage bekommen.
Die ersten Anzeichen des Verfalls
Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man gut zehn Jahre zurückblättern. Damals kaufte die Rock Capital Group, einer der großen Immobilienentwickler in Bayern, die Lindenpassage. Das Ladenzentrum hatte den angestaubten Charme der späten Siebziger-Jahre längst verloren und war, so Rock-Capital-Chef Christian Lealahabumrung, „weit davon entfernt, ein Einkaufsparadies zu sein“.
Schlechte Bausubstanz, ein Zuschnitt, der nicht mehr den Anforderungen des Einzelhandels entsprach, erste Anzeichen des Verfalls: Leerstände zeugten davon, dass das Gewerbegebiet, das die Nachbargemeinde Unterhaching keine 500 Meter entfernt gleich jenseits der Gemeindegrenze aus dem Boden gestampft hatte, der Lindenpassage den Garaus zu machen drohte.
Taufkirchen steht mit diesem Problem nicht allein: „Es gibt in der Region München eine ganze Reihe von Einkaufszentren, die nach einer gewissen Zeit einer Überholung bedürfen“, sagt Christian Schwander vom Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum München (PV). Die Anlagen seien nach damaligen Anforderungen gebaut worden, heute passe vielfach der Zuschnitt nicht mehr.
Im Fall der Lindenpassage wurden Gemeinde und Investor schnell einig: Ein neues Quartier sollte entstehen, mit großflächigem Einzelhandel und teils mietpreisgedämpften Wohnungen. Schon Ende 2016 stand der Bebauungsplan. „Ich hab mich gefragt: Wann kommt der Bauantrag?“, erinnert sich der Zweite Bürgermeister Michael Lilienthal (FW). Doch der blieb aus. Denn inzwischen hatte Rock Capital begonnen, auch die ebenfalls darbende benachbarte Eschenpassage aufzukaufen – auf ausdrückliche Bitte der Gemeinde, wie Lealahabumrung betont.
Ein mühsames Unterfangen: Der Besitz war auf 30 Eigentümer zersplittert, woran schon frühere Sanierungsbemühungen gescheitert waren. Mit jedem Eigentümer musste Rock Capital einzeln verhandeln, erst 2020 konnte das Unternehmen das letzte Puzzlestück erwerben. Währenddessen ruhten die Pläne für die Lindenpassage, die endgültig zu einem Schandfleck verkam, um den viele Anwohner lieber einen Bogen machen. Denn Lealahabumrung hatte längst ein anderes Ziel vor Augen: Eine Planung aus einem Guss für den gesamten Bereich von der Lindenstraße bis zum S-Bahnhof einschließlich einiger flankierender Grundstücke, die Rock Capital zwischenzeitlich erworben hatte. Das „Quartier am Bahnhof“ war geboren.
Ein Bauprojekt für 1,5 Milliarden Euro
Und es war groß, sehr groß: Inklusive des nördlich angrenzenden Geländes der BÄKO, die mit ihrem Logistikzentrum gern umziehen würde, umfasst das Planungsgebiet 12,5 Hektar – mehr als zehn Prozent der gesamten Siedlung am Wald. Das Finanzvolumen des Projekts schätzt Lealahabumrung auf 1,5 Milliarden Euro. 2021 beschloss der Gemeinderat die Überplanung des Quartiers, im März 2022 ging das renommierte Büro Steidle Architekten aus München als Sieger aus einem städtebaulichen und landschaftsplanerischen Wettbewerb hervor. Diverse Gutachten wurden in Auftrag gegeben, doch seitdem, so Lealahabumrung, seien „keine signifikanten Fortschritte“ mehr erkennbar.
Das mag auch daran liegen, dass einige Punkte strittig sind. So will Lealahabumrung das Gewerbe eher im östlichen Bereich nahe des S-Bahnhofs konzentrieren und die Lindenpassage für den Wohnungsbau nutzen. 720 Wohnungen für etwa 1300 Einwohner hält er für möglich und verträglich – eine Zahl, die viele Ratsmitglieder zurückzucken lässt. „Wir werden neue Bürger haben, wir brauchen bezahlbaren Wohnraum“, hatte CSU-Fraktionschefin Hildegard Riedmaier im Wahlkampf 2020 noch gesagt, dabei aber eher den geplanten TU-Campus für Luft- und Raumfahrttechnik im Osten der Gemeinde im Auge gehabt.
Auf die Siedlung am Wald angesprochen, ist sie zurückhaltender. „Ich persönlich meine, wir sollten neue Einwohner haben“, sagt sie. Es sei gut, wenn sich die Bewohnerstruktur weiterentwickle, „aber wir müssen vorsichtig sein“. Man dürfe „nicht die Fehler der 70er-Jahre wiederholen“.
Zu viel Wachstum für die Gemeinde?
Über die Fraktionen hinweg herrscht die Sorge, dass zu großes Wachstum die Infrastruktur überfordern könnte. „Die neue Grundschule ist gerade erst fertig geworden, die Mittelschule fertig geplant“, zitiert Michael Lilienthal ein oft zu hörendes Argument. Kein Gemeinderat möchte als Sündenbock dastehen, wenn beide sich bald schon wieder als zu klein erweisen sollten. Neue Gutachten zu Infrastruktur und Verkehrsbelastung sollen Klarheit bringen. „Aber das kann schnell neun Monate oder ein Jahr dauern“, sagt Lilienthal, der das Projekt gern schneller vorantreiben möchte. Über die Zahl der Wohnungen könne man reden, sagt Lealahabumrung. Er warnt aber davor, zu große Hoffnung auf einträgliches Gewerbe zu setzen: Die Konkurrenz des Unterhachinger Gewerbeparks lasse sich nicht wegdiskutieren.
Hier offenbart sich ein grundsätzliches Dilemma bei derartigen Projekten: Je größer das Vorhaben, umso mehr sitzt den Investoren die Zeit im Nacken, denn Grundstückskauf und vorbereitende Maßnahmen haben viel Kapital gebunden. Gleichzeitig agiert die Kommunalpolitik immer vorsichtiger und damit langsamer, um nur ja keine falsche Entscheidung zu treffen. Schließlich ist man sich der Tragweite bewusst – und der Tatsache, dass man sich vor den Wählern wird verantworten müssen, wenn etwas schiefgeht.
„Große Projekte sind eben meist auch sehr komplex“, ergänzt PV-Experte Schwander. Sie erforderten mehr Vorarbeit, oft seien viele unterschiedliche Interessen zu berücksichtigen – gerade dann, wenn ein Areal so wichtig und exponiert sei wie das Quartier am Bahnhof.
Ärzte und Apotheker schicken Brandbrief
Der Blick nach Unterschleißheim drängt sich auf. Hier verwirklicht Rock Capital gerade ein ähnliches Projekt, die „Neue Mitte“. Dabei türmen sich keine Hindernisse auf, vielmehr kann es der Kommune gar nicht schnell genug gehen. Das mag daran liegen, dass die „Neue Mitte“ deutlich kleiner ist als das Taufkirchner Quartier am Bahnhof und dass der Bürgermeister von Anfang an die Fraktionsspitzen mit ins Boot genommen hat.
Große Teile der Taufkirchener Bevölkerung weiß Lealahabumrung hinter sich, allen voran die Vereine, denen er leer stehende Flächen teils gratis überlassen hat. So hat der Sportverein SV-DJK in der Lindenpassage ein Bewegungszentrum eröffnet, das großen Zulauf hat.
20 Ärzte, Apotheker und andere im Gesundheitswesen Tätige haben vergangenes Jahr in einem Brandbrief an die Gemeinde mehr Tempo angemahnt. Sie warten sehnlichst auf ein Gesundheitshaus, um den teils kaum mehr zumutbaren Bedingungen in den bestehenden Gemäuern zu entkommen.
Doch auch hier gibt es Dissens: Rock Capital möchte den Bau dieses Gesundheitshauses auf einem freien Grundstück vorziehen. Natürlich werde man in den Baulinien des Steidle-Entwurfs bleiben, versichert Lealahabumrung. Doch man müsse jetzt bauen, damit die Gesundheitsberufe endlich einziehen können und die alten Gebäude zum Abriss bereit sind, sobald der Bebauungsplan steht.
Im Gemeinderat gibt es Widerstand gegen diesen Stufenplan. Man dürfe den sehr guten Steidle-Entwurf nicht verwässern, mahnt etwa Hildegard Riedmaier. „Großes Unbehagen“ registriert auch Michael Lilienthal bei diesem Thema. „Wenn ich ein Projekt vorziehe, muss ich später alles andere drum herumplanen“, sagt er. Was, wenn sich dann herausstelle, dass das Gesundheitshaus 20 Meter weiter besser stehen würde?
Droht das „Quartier am Bahnhof“ an diesen Fragen zu scheitern? Gewerbe, Nahversorgung, Gastronomie, Gesundheit und Kultur in einem Mix, der gewährleistet, dass die Straßen nicht nach Ladenschluss leer sind und die Lichter ausgehen, und das alles ohne Flächenfraß – es könnte ein Vorzeigeprojekt werden.
Die Alternativen sind düster: Lealahabumrungs Zeitfenster ist begrenzt, denn der Niederbayer, der im Gespräch als Kumpeltyp rüberkommt, ist auch Geschäftsmann. Wenn dauerhaft nichts vorangeht, wird er wohl die Grundstücke wieder einzeln abstoßen müssen. Die Chance, in zentraler Lage am S-Bahnhof den großen, zukunftsweisenden Wurf zu schaffen, wäre damit auf lange Zeit dahin.
Immerhin regt sich Hoffnung: Der Eindruck des Stillstands täusche ein wenig, verlautet aus dem Büro Steidle. „Im Hintergrund wurde geräuschlos an den Grundlagen des Projekts gearbeitet.“ Auch Apothekerin Cornelia Löwig, die für das Gesundheits-Netzwerk spricht, gibt sich optimistisch und will die Hoffnung auf einen vorgezogenen Bau des Gesundheitshauses nicht aufgeben: „Wir sehen, dass die Gemeinde sich bemüht.“ Nun müssten eben „irgendwann die Entscheidungen getroffen werden“. Wohin die Reise geht, könnte sich schon am morgigen Mittwoch abzeichnen: Dann will die Gemeinde in einer Pressekonferenz Näheres verkünden.