Murnau – Der ehemalige Gastronom Martin Schmid wohnt am Rand von Murnau, ein schönes, etwas in die Jahre gekommenes Haus. Es ist innen ein bisschen wie ein Museum für Kunstgeschichte. Handgeschnitzte Heiligenfiguren, goldverzierte Spiegel, Bilder aus Nepal und Kirgisistan – und Bücher, Bücher, Bücher. Man sagt nur ein Stichwort, schon springt Martin Schmid von seiner Couch im Wohnzimmer auf. Zieht aus einem der Bücherschränke einen Goethe raus. Oder darf’s ein Hölderlin sein? Setzt sich wieder. „Woast, was a schee is“, fragt er dann und geht schon wieder los. Ein alter Kunstführer. Er blättert darin, „wer hat das schon?“.
Der 89-Jährige hat alles. Auch ein Stück vom Nachlass des jüdisches Ehepaares Schnebel, das von den Nazis 1938 in den Tod getrieben wurde. Als unsere Zeitung im November über den Tod der Schnebels aus Garmisch-Partenkirchen berichtete, rief Schmid in unserer Redaktion an. Der Name Schnebel war ihm gut bekannt – er hat wohl über 100 Bücher, die einst Schnebel gehörten. Und das kam so:
Michael und Emmy Schnebel lebten 1938 in Garmisch-Partenkirchen. Er war Wissenschaftler für Papyrologie, schrieb ein Standardwerk über Landwirtschaft im alten Ägypten. Sie war Hausfrau. Dann kam der 9. November 1938. Ein Mob trieb alle Juden in Garmisch-Partenkirchen auf den Marktplatz – auch die Schnebels. Hals über Kopf flohen sie nach Österreich. In Feldkirch/Vorarlberg wollten sie über die Grenze in die Schweiz. Als das scheiterte, verübten sie am 14. November 1938 Selbstmord.
Martin Schmid war damals fünf Jahre alt. Er wohnte mit seinen Eltern in Garmisch-Partenkirchen, Schmids Mutter stammte aus einem Bauernhof in der Holledau, der Vater war Gastwirt und übernahm 1934 das Forsthaus in Oberau, baute es zu einer gut gehenden Gastwirtschaft aus. Die Mutter half nach Kräften mit. Aber sie hatte auch ein anderes Faible: „Die Mama war ein Schöngeist“, sagt Schmid. Und sie besuchte gerne Versteigerungen. So kam es, dass sie nach dem Pogrom in die Wohnung der Schnebels in der Waxensteinstraße ging und Bücher aus der Bibliothek Schnebels erwarb. Denn der Nachlass der Schnebels – wie wohl aller Juden in Garmisch-Partenkirchen – wurde auf Auktionen unter die Leute gebracht. „Bei der Versteigerung war ich dabei“, erinnert sich Schmid. „Da hat mich die Mama mitgenommen.“
Nicht nur die Frau Schmid griff damals zu, vermutlich auch viele andere Bürger, vermutet der pensionierte Garmisch-Partenkirchner Geschichtslehrer Alois Schwarzmüller, der Schnebels Geschichte als Erster recherchiert hat. Er hört, was Schmid sagt. Zum Beispiel dass ein Koffer mit Schmuck von einer anderen Frau ersteigert worden sei. Wie viele Bücher er von den Schnebels hat, weiß er nicht so genau. Sie sind in diversen Bücherschränken verstreut. „100 scho“, schätzt der alte Herr. Er kann sie alle identifizieren, da Schnebel in jeden Band ein Exlibris einklebte – einen verzierten Zettel mit seinem Namen. Außerdem schrieb er oben rechts auf die erste Buchseite meistens in Schreibschrift und mit Tinte seinen Namen: Schnebel.
Schwarzmüller hat zum Besuch bei Martin Schmid ein Foto mitgebracht – darauf erkennt man die Bibliothek Schnebels. Er hatte Goethe und Schiller im Regal, viele weitere große deutsche Dichter – „da sieht man, wie national er eingestellt war“. Martin Schmid hat auch etwas Mobiliar von Schnebel, zudem drei Gemälde, die nun in seinem Haus hängen. Darunter ist ein Aquarell des Malers Lorenz Ritter, eine Nürnberger Stadtansicht aus dem 19. Jahrhundert, auf der auch die (beim Pogrom zerstörte) Nürnberger Synagoge zu sehen ist. Ein weiteres Bild aus dieser Zeit stammt vom Landschaftsmaler Carl Gustav Rodde. Nicht dabei waren wissenschaftliche Aufzeichnungen Schnebels – er plante einen zweiten Band seiner Agrargeschichte Alt-Ägyptens. Nach den Vorarbeiten hatte sich noch 1938 auch Franz Josef Strauß erkundigt, wie Schwarzmüller recherchierte. Der spätere CSU-Chef war 1938 Student für Altphilologie in München.
Martin Schmid hat kein schlechtes Gewissen, wenn er über die Schnebels erzählt. „Meine Eltern haben schon gewusst, was los war.“ Als überzeugte Nazis schätzt er sie nicht ein, eher im Gegenteil.
Wie viel „die Mama“ für Schnebels Hinterlassenschaften zahlte, ist nicht bekannt. Auch nicht, in welchen Privathaushalten es noch Stücke aus Schnebels Besitz gibt. Vermutlich ging der Erlös an den Staat – die Schnebels waren zu diesem Zeitpunkt wohl schon tot. An die Juden von Garmisch-Partenkirchen erinnert heute ein Denkmal in der Ortsmitte.