KOLUMNE

VON SUSANNE BREIT-KESSLER Eine Stunde Zeit

von Redaktion

Vor 122 Jahren, am 9. Dezember 1901, wurde er geboren. Ödön von Horváth. Die Texte des Autors und seine Theaterstücke rütteln wach und beunruhigen durch den realistischen Blick auf Kleinbürger ohne Perspektive, Frauen in fürchterlicher Abhängigkeit von Männern und auf den Faschismus. Seine beißend-ironische Sozialkritik ist betrüblicherweise aktuell. In dem Stück „Zur schönen Aussicht“, 1926 geschrieben, sagt eine der Hauptpersonen: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ Dieser Satz charakterisiert inzwischen auf Postkarten leichten Sinnes die Differenz zwischen Wollen und Sein: Hase und Schildkröte stehen bereit zu einem Wettrennen. Eichhörnchen spielen Schach im Schnee und ein Tiger macht es sich auf dem Sofa gemütlich.

Ich mag diese liebenswürdigen Motive. Aber von Horváth, das Geburtstagskind dieses Wochenendes, hat eine härtere Gangart. In dem Stück „Kasimir und Karoline“ heißt es: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.“ Es ist schmerzlich, wenn man sich fühlt, als sei man im eigenen Dasein nicht anwesend. Horváth schildert Menschen, die sich damals wie heute verstellen, fremde Rollen spielen, um einigermaßen überzeugend zu überleben. Aber in seinen Stücken gelingt das kaum. Wer nicht im Innersten er oder sie selbst sein kann, verliert sich und scheitert irgendwann. Eine schöne Aussicht, wie das Stück heißt, in dem zweifelhafte Personen ein heruntergekommenes Hotel bevölkern – Sinnbild für die Gesellschaft? Eher weniger.

Seine Arbeit hat Horváth als „Demaskierung des Bewusstseins“ beschrieben und die Entfremdung des Menschen von sich selber dargestellt, den Verlust und Entzug von Werten und echter Qualität. Mir ist zu dieser dramatischen Entwicklung, die eben leider nicht Vergangenheit ist, wieder der Satz eines jüdischen Rabbi eingefallen. Diese weise Sentenz begleitet mich schon ein halbes Leben lang. Gerade im Advent. Er lautet: „Ein Mensch, der am Tag nicht eine Stunde für sich hat, ist kein Mensch.“ Vielleicht könnte, positiv gesprochen, eine Stunde am Tag ohne angepasste Maskierung, ohne Rollenzwang ausreichen, um zu sich zu kommen und bei sich zu sein. Damit man Kraft schöpft, um den Übergriffen auf das eigene Leben und das anderer zu wehren. So nämlich: Ich bin tatsächlich anders. Und ich komme immer öfter dazu.

Eine Stunde am Tag Zeit für sich – für heilsame Sehnsucht und ihre Verwirklichung. Dann könnt man mit Flügeln, die einem wachsen, mittendrin sein, so, als gehörte einem die Zeit ewig. Das wäre ein schönes neues Stück auf der Bühne des Lebens.

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