München – Albert Frank weiß, dass in eine Sekunde sehr viele Gedanken passen. Augenblicke können sich wie Ewigkeiten anfühlen – und trotzdem zu kurz für eine Reaktion sein. „Es dauert 92 Meter, bis ein Zug stillsteht“, sagt er. 92 Meter sind fast immer zu kurz, wenn plötzlich ein Mensch auf den Gleisen steht. Auf Momente wie diese werden Zugführer in ihrer Ausbildung vorbereitet. „Jeder hofft, dass ihm so was nie passiert.“ Albert Frank musste gleich zweimal innerhalb kurzer Zeit in einem Münchner U-Bahn-Tunnel eine Vollbremsung einleiten. Und zweimal musste er danach die Leitstelle anrufen und einen Suizid melden.
Diese beiden Tage liegen Jahrzehnte zurück. Frank ist heute 83 und Rentner. Doch die Erinnerungen begleiten ihn noch immer. Manchmal durch seine Träume. Manchmal kommen die Bilder wieder, wenn er ein Foto von Dagmar Berghoff sieht. Die Frau, die damals vor seiner Bahn auf den Gleisen kniete, sah der „Tagesschau“-Sprecherin ähnlich. Der 83-Jährige hat gelernt, mit den grauenhaften Bildern zu leben, die er damals sah, als er aus dem Lokführerstand stieg. „Diese Erinnerungen schleppt man das ganze Leben mit sich herum“, sagt er. Nie wird er den Blick der Frau vergessen, als sie von dem Zug erfasst wurde. „Ich war wie gelähmt“, erzählt er. Trotzdem funktionierte er, setzte die Rettungskette in Gang. Der Disponent in der Leitstelle bat ihn damals, nachzusehen, ob noch ein Notarzt gebraucht werde. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass die Frau tot war. Und es vergingen lange Minuten, bis die Ersthelfer an der Unglücksstelle eintrafen. „In so einem Moment ist man die ärmste Sau auf der ganzen Welt“, sagt Frank.
Eine psychologische Betreuung für die Fahrer gab es in den 70er-Jahren noch nicht. „Jetzt gehst erst mal heim und nimmst eine heiße Dusche“, sagte man Frank damals. Als ob sich solche Erlebnisse abwaschen ließen. Nicht einmal mit seiner Frau schaffte er es, darüber zu reden, was er erlebt hatte. Am nächsten Tag ging er wieder zur Arbeit. „Seit damals fuhr die Angst immer mit.“
Einige Jahre später war Albert Frank Leiter des Fahrdienstbüros. Ein Diakon bat ihn um ein Gespräch, Andreas Müller-Cyran. Er hatte gesehen, wie ein Kind von einer Trambahn überfahren worden war. Alle kümmerten sich natürlich um das Opfer – niemand um die Menschen, die wie er den Unfall beobachtet hatten und unter Schock standen. Albert Frank und er unterhielten sich vier Stunden lang. Müller-Cyran war der Erste, der sich erkundigte, welche Unterstützung es für Zugführer nach einem Suizid oder einem schweren Unfall gibt.
Auch in den 90ern gab es für Albert Franks Kollegen noch kaum Hilfen. Viele Kollegen, die Ähnliches erlebt hatten wie er, saßen irgendwann in seinem Büro. Seine Aufgabe war es, über die Unfälle detaillierte Protokolle anzufertigen. „In meinem Büro ist viel geweint worden“, erzählt er. Auch ihm kamen oft die Tränen. Frank erinnert sich noch gut an eine junge Kollegin, die ihren Beruf wegen des Suizids eines Menschen aufgeben musste. Ihre Angst, noch einmal etwas Ähnliches zu erleben, war zu groß.
Auch davon berichtete er dem Diakon. Müller-Cyran hatte damals bereits einen guten Kontakt zum Arbeiter-Samariter-Bund. Gemeinsam suchten sie das Gepräch mit dem Notfallsanitäter Peter Zehentner. Der war sofort aufgeschlossen für die Idee, ein Team zu gründen, das in Krisen psychologische Unterstützung anbietet. Es war die Geburtsstunde des Kriseninterventionsteams in München. „Ich bin noch heute stolz darauf, dass uns das damals gelungen ist“, sagt Albert Frank. Es dauerte nicht lange, bis die Leitstelle aus Erding bei ihm anrief, um sich über das Münchner Kriseninterventionsteam zu informieren. „Es ist bald auch in vielen anderen Landkreisen entstanden.“
Albert Frank vermittelte in den folgenden Jahren viele Kollegen an die Helfer des KIT. Und er hat sich oft gewünscht, dass es diese Hilfe schon zu seiner Zeit als U-Bahn-Fahrer gegeben hätte. „Man darf Menschen in solchen Situationen nicht alleinlassen“, betont er. Seine Erfahrung ist: Nichts hilft so sehr wie ein Gespräch. „Verdrängen kann man so ein Erlebnis nie – man muss lernen, damit zu leben.“ Albert Frank ist das gelungen. Manchmal schreit er im Schlaf, erzählt er. Die Albträume sind ihm geblieben. „Der Tod ist für mich so etwas wie ein Lebensthema geworden“, sagt er nachdenklich. Vielleicht geht er deshalb so oft auf Friedhöfen spazieren. „Sie sind für mich ein guter Ort, um Ruhe zu finden.“
Hilfe bei seelischen Krisen
In seelischen Notlagen gibt es Ansprechpartner. Der Krisendienst Oberbayern ist rund um die Uhr und kostenlos unter 0800/655 30 00 erreichbar. Auch beim KIT gibt es ein Beratungstelefon: 089/74 36 33 33.