Der Knecht, der 100 Jahre alt wird

von Redaktion

Romi kam als junger Mann auf den Ostermair-Hof bei München – und blieb bis heute

VON MARC-OLIVER SCHREIB

Ödenpullach – Romulus Sauleanu, den alle Romi nennen, sitzt auf seiner Eckbank. Hinter ihm an der Wand hängen ein Kruzifix, Familienfotos und ein Bild von dem Anwesen, auf dem er fast sein ganzes Leben lang geschuftet hat. Als Knecht. Doch der Ostermair-Hof in Ödenpullach im Kreis München war nicht nur sein Arbeitsplatz. Er ist sein Zuhause, immer noch. Hier wird er am 1. Januar auch seinen Geburtstag feiern: Romi, der Knecht, wird 100 Jahre alt. „Es ist viel Zeit vergangen, und ich bin immer noch da“, sagt der Landwirt, er klingt triumphierend. Und sehr dankbar.

Der junge Romi wuchs im rumänischen Klausenburg auf, der inoffiziellen Hauptstadt der Region Transsilvanien. Nach Kriegsende wollte er nicht im Land bleiben, das vom Kommunismus beherrscht wurde. Er schlug sich 1947 nach Deutschland durch und versuchte sein Glück. 1949 wartete er im Arbeitsamt München auf dem Gang, es herrschte Trubel – da stand plötzlich ein Herr in Tracht mit Hut vor ihm und bot ihm eine Stelle an. Bauer Adam war das, er suchte einen Knecht für seinen Betrieb in Ödenpullach – mit einem Dach über dem Kopf, einer geregelten Arbeit und ausreichend Verpflegung. Auf einem Hof, der seit rund 600 Jahren existiert, auch wenn von der ursprünglichen Bausubstanz nicht viel übrig ist.

Geheiratet hat Romi nicht, eine Familie fand er aber schon. Es dauerte damals nämlich keine drei Wochen, bis der Bauer volles Vertrauen gefasst hatte. Von der außerordentlichen Leistungsbereitschaft des jungen Rumänen überzeugt, streckte er ihm die Hand entgegen und trug ihm an, zur Familie zu gehören. Es musste schließlich unter allen Umständen verhindert werden, dass Romi den Hof wieder verlässt. Damals war es keine Seltenheit, dass Knechte, denen ihre Arbeit nicht passte, bei Nacht und Nebel ihr Hab und Gut schulterten und sich vom Hof machten. Aber Romi Sauleanu bewies Loyalität.

Er kümmerte sich um die Feldwirtschaft, spannte die Rösser an, von denen es vier auf dem Hof gab. Später machte er einen Führerschein und saß auf dem Traktor, der Betrieb florierte. Man teilte mit den Nachbarn die landwirtschaftlichen Geräte und half einander aus. Noch heute nutzen die Bewohner Ödenpullachs beispielsweise einen Anhänger, der vor Jahrzehnten gemeinsam angeschafft wurde.

Romi Sauleanu war handwerklich geschickt, er packte überall dort an, wo Hilfe nötig war – sei es im Wald bei der Holzarbeit oder beim Schmieren der Wagenräder. Auf den Wiesen, der Weide oder auf dem Feld. Auf dem Hof gab es anfangs rund 30 Kühe und Schweine, die Futter brauchten und ausgemistet werden mussten. Im Wandel der Zeit änderte sich das, und der Ostermair-Hof wurde zum Beispielbetrieb des Landtechnischen Vereins und Erprobungsbetrieb der Bayerischen Landesanstalt für Tierzucht. Die Maschinen wurden ausgetauscht, eine arbeitssparende Rindviehhaltung sollte im Familienbetrieb eingeführt werden, die Kälberaufzucht wurde optimiert. Der Betrieb kümmerte sich um die Aufzucht von Kälbern hin zu hochtragenden Kalbinnen. Von diesem Modell hat man sich mittlerweile getrennt, die Wiesen rundherum sind verpachtet, Teile des Hofes vermietet an eine Autowerkstatt, einen Caravanservice und ein Feinkostgeschäft. Nur den Wald auf dem rund 80 Hektar großen Besitz bewirtschaften der Hoferbe Johann Kranz und seine Frau Ines noch. Sie gewinnen daraus Hackschnitzel oder verkaufen Fichte und Buche als Brennholz.

Romi Sauleanu hat so vieles kommen und gehen sehen. Mit seinen 99 Jahren lebt er immer noch in seiner eigenen Wohnung auf dem Hof – mittlerweile notgedrungen zurückgezogen, er kann auch nicht mehr spazieren gehen. Noch vor ein paar Jahren hatte er immer noch den Kehrbesen in die Hand genommen und den Hof gefegt. Auch in der Küche packte er über Jahrzehnte mit an – gerne kochte er seine Maissuppe. Das Rezept hatte er aus Rumänien mitgebracht. Berühmt sind auch seine Pfannkuchen.

Am Weihnachtsabend saß die ganze Familie im Bauernhaus beisammen, traditionell gab es Würstl und Kartoffelsalat. Am Christbaum hingen die Strohsterne und Wachskugeln, es duftete nach Punsch. Und alle sangen im Chor „Stille Nacht“. Zu Romis 100. Geburtstag am 1. Januar erklingt in der Stube bestimmt auch ein Lied, ein Geburtstagsständchen. Nur wenige hören es so oft wie Romulus Sauleanu.

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