München – Manchmal ist das Entsetzen über das geschilderte Leid so groß, dass Kilian Semel nach einem Telefonat erst einmal an die frische Luft muss. Der 56-jährige katholische Priester geht dann die wenigen Schritte von seinem Büro hinterm Münchner Rathaus zum Hofgarten und dreht eine Runde, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.
Semel ist seit Juli 2022 Leiter der Stabsstelle Beratung und Seelsorge für Betroffene von Missbrauch und Gewalt in der Erzdiözese München und Freising. Ein umständlicher Name für eine Einrichtung, die auf nachdrückliches Betreiben der Missbrauchsbetroffenen eingerichtet wurde. Kilian Semel ist nicht nur Leiter dieser Anlaufstelle, in der Missbrauchsüberlebende ein offenes Ohr und wichtige Tipps für die Bewältigung ihres Traumas bekommen – Semel ist auch selbst ein Betroffener. Er wurde als Kind im Saarland vom Pfarrer missbraucht.
Wer, wenn nicht ein Betroffener, kann verstehen, was es für die traumatisierten Menschen bedeutet, überhaupt über das zu sprechen, was in ihrer Kindheit an ihnen verbrochen wurde? „Das sind Geschichten, die mich unendlich traurig machen.“ Die Stabsstelle hat einen Kooperationsvertrag mit der Traumaambulanz der Ludwig-Maximilians-Universität und anderen Beratungsstellen. „Sodass wir schnell jemanden unterbringen können, der dringend Hilfe braucht.“ Es gibt sowohl Telefongespräche als auch Treffen mit Semel oder den beiden Psychologinnen.
Auch Kilian Semel hatte sein Missbrauchsleid lange verdrängt. Als 2010 der Skandal bundesweit ans Licht drängte, ging diese Schublade wieder auf, erzählt er. „Die Psyche hat ein Supertalent, diese traumatischen Erlebnisse ganz tief zu vergraben.“ Er ist überzeugt davon, dass das eine Überlebensstrategie ist: „Opfer würden sonst kaputtgehen.“
Der Seelsorger brauchte selber Seelsorge, in einer Therapie hat er seine Leidensgeschichte aufgearbeitet. Jetzt die Geschichten der anderen Betroffenen zu hören kostet ihn viel Kraft – weil das immer wieder das eigene Erlebte ins Bewusstsein schleudert. Semel hat daher eine gute supervisorische Begleitung. Auch die Kontakte zu den anderen Mitgliedern des Betroffenenbeirats, dem er auch angehört, stützen ihn. Sehr schnell findet er in der Regel im Gespräch mit Hilfesuchenden eine gemeinsame Ebene – man weiß, wovon der andere spricht, kennt den Schmerz. „Die Erfahrung, dass mich jemand benutzt hat für seine verquere Sexualität – das macht mich zornig und das ekelt mich an“, sagt Semel. Er weiß, dass Betroffene oft eine große Scham haben und sich sogar schuldig fühlen. „Du bist nicht schuld, du bist ein Opfer“, versucht er ihnen zu vermitteln.
Eine ganze Menge ist in den vergangenen Jahren durch den Betroffenenbeirat der Erzdiözese, durchs Ordinariat und speziell die Stabsstelle auf den Weg gebracht worden, findet Semel. Nicht immer zur Zufriedenheit aller Betroffenen, räumt er ein. Aber: „Wir haben einen sehr gangbaren Weg beschritten hier im Erzbistum.“ Sie sind auf Augenhöhe mit den Verantwortlichen im Gespräch. „Der Kardinal hat wirklich einen gewaltigen Lernschritt gemacht.“ Am Herzen liegt dem Pfarrer, dass auch die Gesellschaft und die Politik das Thema Missbrauch stärker in den Blick nehmen. Statistisch gesehen erleben in jeder Schulklasse zwei Kinder einen Missbrauch. „Hinschauen“, fordert er. „Lieber einmal zu viel etwas dem Jugendamt oder der Polizei melden als einmal zu wenig.“
Dieses Jahr soll ein Offener Treff für Betroffene eingerichtet werden. Austausch in einem geschützten Raum ist für sie ein großes Bedürfnis. Die Stabsstelle wird erweitert um die Beratung von Menschen, die spirituell missbraucht wurden – Ordensleute etwa, denen ein Oberer eingeredet hat, sie seien vom Teufel besessen.
In seiner eigenen Therapie hat sich Semel irgendwann die Frage gestellt: „Will und kann ich in dieser Kirche weiter meinen Dienst tun?“ Semel entschied für sich: Wenn er alles aufgebe, was ihn in seinem Leben getragen hat und ihm Freude am Glauben gegeben hat, würde er dem Täter weiterhin Macht über sich geben. Das wollte er nicht. „Ich selbst entscheide, wie ich in Zukunft mein Leben führen werde.“
Zu den besten Entscheidungen, die er in letzter Zeit getroffen hat, gehört Pami. Semel hat sich eine Hündin angeschafft, von der Tierrettung aus Ungarn. Wenn er in sein Zuhause in Zorneding im Kreis Ebersberg kommt, geht es sofort mit der Mischlingshündin nach draußen. „Ich war noch nie so viel an der frischen Luft. Da kann ich total abschalten.“