Oberau – Was sie am 27. Dezember erlebt haben, können Hans H. und sein Sohn Andreas nicht so schnell vergessen. Am Morgen eilt ihr Nachbar aufgeregt auf ihren Hof in Oberau, einem Weiler in Berchtesgaden. Er erzählt Vater und Sohn, dass Menschen im nah gelegenen Waldstück umherlaufen. Zudem hätten schon zwischen 6.30 und 7 Uhr immer wieder weiße Kleinbusse auf ihrem Grundstück gehalten. Hinter dem Stall unterhalb des Ferienhofes von Familie H.
„Wir sind erst gegen 8.30 Uhr rausgekommen, um mit der Arbeit zu beginnen“, erinnert sich Hans H. heute. Bis der Nachbar vor ihnen steht, ahnen Vater und Sohn nicht, was auf ihrem Grund und Boden passiert ist. Die Leute im Wald sind wohl Spaziergänger, entgegnen sie noch. „Erst als er zu mir meinte, dass bei uns Schleuser stehen, hab ich zu ihm gesagt: ,Dann ruf die Polizei‘“, erzählt Hans H.
Hans H. geht in Richtung Stall, um sich selbst ein Bild zu machen. Er sieht einen weißen Transporter, von dem mehrere Menschen davon laufen. „Spätestens da war mir klar, dass es sich um Schleuser handelt.“
Der 61-Jährige ruft seinem Sohn zu, er solle ihm mit dem Traktor den Fluchtweg versperren. „Wir haben uns überhaupt nichts dabei gedacht, sondern einfach gehandelt.“ Vater und Sohn positionieren sich mit ihrem Traktor samt Anhänger oberhalb des Stalls. „Da habe ich schon zu meinem Bub gesagt, dass wir aufpassen müssen, dass er uns nicht überfährt.“ Da ihre Blockade eine kleine Lücke aufweist, stellen sie noch einen Bauzaun auf.
Als der Fahrer des Transporters den versperrten Weg sieht, hält er kurz an – und gibt dann Gas. Er rammt den Bauzaun, der mehrere Meter davon fliegt. Die Bauern schreien „Stopp“, winken wild und fordern ihn auf, zu halten. „Als der Transporter an uns vorbeifährt, habe ich zu meinem Sohn gesagt: ,Pass auf, der fährt dich zusammen‘“, erzählt Hans H. „Er war ja auf der anderen Seite und ich habe ihn durch den Transporter nicht mehr gesehen. Das waren Sekundenbruchteile.“
Weit kommt der Fahrer mit dem Transporter nicht. Er bleibt nach wenigen Metern vor einem Mast auf der Wiese stehen. Vater und Sohn reißen von rechts und links die Türen auf. Zusammen packen sie den Fahrer. ziehen ihn heraus – während der sich mit Händen und Füßen wehrt. Gemeinsam mit ihrem Nachbarn (55) halten sie den Mann fest und drücken ihn auf den Boden. Dann waren auch schon die Sirenen der Polizei zu hören, erinnert sich Hans H. Zahlreiche Streifenwagen treffen in Oberau ein, am Himmel kreist ein Polizeihubschrauber.
Einen Tag später wird Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Schleuser erlassen. Er sitzt nun in U-Haft. Im völlig überladenen Transporter hatte der 39-jährige Serbe an dem Tag 18 Menschen syrischer Staatsangehörigkeit über den Grenzübergang Neuhäusl gebracht.
Kurz darauf gab die Staatsanwaltschaft Traunstein bekannt, dass sie auch gegen die drei Berchtesgadener ermittelt. „Beim mutmaßlichen Schleuser wurden leichte Verletzungen festgestellt: Aufgeschürfte Knie und eine Nasenbeinprellung“, erklärt ein Sprecher der Staatsanwaltschaft nun auf Nachfrage. „Weil die Verletzungen auf den ersten Blick schlimmer gewirkt hatten, wurden Ermittlungen nach der Verhältnismäßigkeit der Festnahme eingeleitet.“
Zweimal habe die Polizei Hans H. daheim befragt. „Hätten wir ihn zum Aussteigen bitten sollen?“, fragt er. „Freiwillig hätte der sich nicht draußen hingestellt und auf die Polizei gewartet. Der hätte uns für dumm verkauft und wäre davongerannt.“ Eine Gretchenfrage für die Justiz: „Die Staatsanwaltschaft begrüßt Zivilcourage“, sagt der Sprecher. „Aber so bringt man sich nicht nur selbst in Gefahr, sondern läuft auch Gefahr, dass die Grenzen zur Selbstjustiz verschwimmen.“
„Dass er sich bei seinem Widerstand, als wir ihn herausgezogen haben, wehgetan hat, kann schon sein“, sagt Hans H. „Auch der Bauzaun ist in die Frontscheibe geflogen, die Verletzung kann von dem Zusammenprall stammen.“ Ob die Scheibe davor schon beschädigt war oder erst dadurch kaputtging, weiß der Bauer bei der Vernehmung nicht mehr.
Gestern hat auch Andreas H. (25) eine Vorladung bekommen. Hans H. macht sich Sorgen. „Nicht für mich, das ist mir egal. Aber ich will nicht, dass mein Sohn Ärger bekommt und beispielsweise einen Eintrag ins Führungszeugnis erhält. Das würde mich richtig ärgern.“ Der Landwirt fragt sich: „Man soll ja nicht immer wegschauen. Wenn wir ihn fahren lassen, schleust er die Nächsten illegal ein oder verletzt bei seiner Flucht noch jemanden.“