München – Bis 2050 werden knapp 1,1 Millionen Menschen in Bayern auf Pflege angewiesen sein. Heute sind es 578 000. Das bedeutet nicht nur, dass noch deutlich mehr Pflegekräfte gebraucht werden. Auch die Zahl der Pflegegutachten wird enorm steigen. Ist sie bereits – zwischen 2016 und 2022 um 23 Prozent. Für die Begutachtung zuständig ist der Medizinische Dienst. Und der plädiert angesichts dieser Prognosen dafür, mehr Begutachtungen per Telefon oder Videoschalte durchführen zu können. Das ist kein Neuland für die Gutachter – schon während der Pandemiejahre fanden die Befragungen in den meisten Fällen nicht persönlich statt. „Die Zahl der Widersprüche ist dadurch nicht gestiegen“, sagt Claudia Wöhler, die Vorstandsvorsitzende des Medizinischen Dienstes. Er liegt bundesweit bei acht Prozent. Bei etwa der Hälfte werde der festgestellte Pflegegrad bei der zweiten Begutachtung bestätigt.
Seit Anfang des Jahres ist die telefonische Begutachtung bereits unter bestimmten Bedingungen möglich. Die erste Begutachtung findet immer persönlich statt. Auch wenn es um Kinder geht, wird das Telefon einen Besuch nie ersetzen, sagt Wöhler. Aber sobald über eine die Einstufung in einen höheren Pflegegrad entschieden werde, sollen Gutachter künftig entscheiden können, ob sie dafür persönlich vorbeikommen – falls die letzte Begutachtung nicht länger als drei Jahre zurückliegt und die Betroffenen einverstanden sind. „Der Hausbesuch bleibt Standard“, sagt Wöhler. Allerdings sind damit oft lange Anfahrtswege verbunden. Und längere Wartezeiten auf einen Termin. Auch in vollstationären Pflegeeinrichtungen hat der MD bereits Videobegutachtungen getestet – mit großem Erfolg, wie Wöhler betont.
Georg Sigl-Lehner ist nicht ganz so euphorisch angesichts der technischen Möglichkeiten. Er ist nicht nur Heimleiter in Altötting, sondern auch Präsident der Vereinigung der Pflegenden in Bayern. Gerade bei Pflegebedürftigen, die aus dem häuslichen Umfeld ins Heim kommen, stimme die Pflegegrad-Einstufung häufig nicht, berichtet er. Wenn im Heim festgestellt werde, dass ein höherer Pflegegrad nötig ist, werden die Angehörigen gebeten, einen Antrag zu stellen. „95 Prozent bekommen danavh einen anderen Pflegegrad.“
Auch Sigl-Lehner weiß, dass sich die Pflege-Situation in den kommenden Jahren zuspitzen wird. Hoffnung macht ihm ein Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Der will den Pflegefachkräften mehr Kompetenz zusprechen – auch bei der Beurteilung eines Pflegegrades. „Dieses neue Gesetz ist die Lösung für die Überlastung des Medizinischen Dienstes“, sagt Sigl-Lehner. In den stationären Einrichtungen könnten die Pflegekräfte die Begutachtung übernehmen. Auch Pflegekräfte, die für einen ambulanten Dienst arbeiten, hätten diese Kompetenz. „Wir wissen schließlich sehr genau, wie die Pflegebedarf aussieht, und müssen ihn schon jetzt erfassen.“ Der MD könnte sich bei den Begutachtungen dann auf die Menschen konzentrieren, die von Angehörigen gepflegt werden – immerhin die größte Gruppe. Sigl-Lehner glaubt, dass es mit diesem System leichter wird, für alle den passgenauen Pflegegrad zu finden.
Auch Claudia Wöhler begrüßt Lauterbachs Entwurf für das Pflegekompetenzgesetz. „Es würde für uns eine große Entlastung bedeuten“, sagt sie. Schon jetzt sei die Zusammenarbeit zwischen MD und den Pflegekräften sehr eng. Durch das Gesetz könnten sie dem Medizinischen Dienst viele Begutachtungen abnehmen. Außerdem wird es den Beruf attraktiver machen, glaubt Sigl-Lehner. Denn egal, wie die Begutachtungen künftig ablaufen – mehr Pflegekräfte werden in jedem Fall gebraucht werden.