München – Künftig werden noch mehr Pflegekräfte fehlen – das ist bekannt. Doch die Situation wird sich wohl bereits in diesem Jahrzehnt deutlich zuspitzen, wie Wissenschaftler berechnet haben. Nach ihrer Prognose wird es schon vor 2030 zu einem kritischen Kipppunkt kommen. Die Vereinigung der Pflegenden in Bayern hat gestern die neue Studie zum Pflegepersonalbedarf vorgelegt. Professor Michael Isfort von der Dienstleistung, Innovation, Pflegeforschung GmbH und Professor Thomas Klie von der AGP Sozialforschung haben mit ihrem Team 420 Pflegeeinrichtungen befragt und Zahlen bis über das Jahr 2050 hinaus hochgerechnet.
Die Pflegebedürftigen
Der Anteil der Über-75-Jährigen in der Bevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten deutlich steigen. In der Stadt München nur um 7,8 Prozent, im Kreis Bamberg aber zum Beispiel um 63,8 Prozent. In 24 der 96 Landkreisen liegt der Wert über 50 Prozent. Damit wächst auch die Zahl der Pflegebedürftigen rapide. 2021 gab es in Bayern 578 147 Menschen, die auf Pflege angewiesen waren – so viel wie nie zuvor. Das hängt allerdings auch mit der Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade zusammen. Dadurch stieg die Zahl der Pflegebedürftigen seit 2017 um mehr als 178 000. Der Anstieg sei auch zurückzuführen auf verbesserte Beratung und eine höhere Bereitschaft, Pflege in Anspruch zu nehmen, erklären die Autoren der Studie. Für Bayern prognostizieren sie bis 2055 einen dauernden Zuwachs an Pflegebedürftigkeit. Landesweit wird die Zahl der Menschen, die Pflege in Anspruch nehmen, bis dahin um fast 300 000 steigen. Bis 2065 werde die Zahl stabil bleiben, prognostiziert die Studie. 2070 wird es zu einem erneuten Anstieg kommen.
Das Angebot
2021 gab es in Bayern 2140 ambulante Dienste und 1504 vollstationäre Einrichtungen. Die Auslastung der Plätze für die Dauerpflege lag bei 84,6 Prozent. Viele stationäre Einrichtungen konnten wegen des Personalmangels nicht alle Pflegeplätze belegen. Insgesamt sprechen die Autoren der Studie aber von einer hohen Dichte an Einrichtungen der stationären Versorgung im Freistaat. Es gebe keine gravierenden „weißen Flecken“ auf der Landkarte.
Die Fachkräfte
Im Juni 2022 arbeiteten in Bayern 121 500 Menschen sozialversicherungspflichtig in der Pflege. Das bedeutet, dass die Zahl in den Pandemiejahren gestiegen ist, 2019 lag sie bei 117 384. Dabei gebe es aber große Unterschiede, sagt Professor Michael Isfort, einer der Autoren der Studie. Während es im Krankenhaus mehr Personal gebe, würden die stationären Einrichtungen zunehmend unter Druck geraten. „Für alle Bereiche gilt aber: Einen Pflexit, also einen massenhaften Ausstieg aus dem Pflegeberuf, sehen wir nicht.“
Die Auszubildenden
Der tatsächliche Bedarf in der Pflege ist höher als die Zahl der besetzten Stellen. 44 Prozent der befragten Einrichtungen aus allen Bereichen der Pflege gaben an, dass die aktuelle Personalausstattung nicht dem tatsächlichen Bedarf entspricht. 79,8 Prozent der ambulanten Dienste sagen, dass sie wegen fehlendem Personal Patienten ablehnen müssen, in der stationären Pflege sind es 51,6 Prozent. 30,6 Prozent der Pflegedienste mussten deshalb 2023 sogar Versorgungsverträge auflösen.
Die Studie enthält aber auch eine gute Nachricht: Die Zahl der Auszubildenden ist 2020 und 2021 gestiegen und dann stabil geblieben. Doch das wird nicht reichen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. In diesem Jahr werden 2650 Pflegende in Rente gehen, nächstes Jahr bereits 3300, danach mehr als 4000 pro Jahr. Schon 2029 und 2030 wird laut Hochrechnung die Zahl der Neuausgebildeten nicht mehr reichen, um diese Lücken zu füllen. „Das ist eine beunruhigende Perspektive“, sagt Georg Sigl-Lehner, der Präsident der Vereinigung der Pflegenden in Bayern. „Wir müssen um jeden Ausbildungsplatz kämpfen, der uns beispielsweise durch schließende Krankenhäuser verloren geht. Und wir müssen die personellen Ressourcen, die wir haben, besser nutzen.“
Eine noch wichtigere Rolle werden auch Pflegekräfte aus dem Ausland spielen. 4676 Menschen aus Drittstaaten durften 2022 in Bayern einen Arbeitsplatz in der Pflege antreten – mehr als in den anderen Bundesländern. In der Altenpflege waren es aber nur 1152 Zulassungen, das macht nur einen Anteil von 2,7 Prozent aus. In diesem Bereich stagnieren die Zahlen eher oder gehen sogar zurück. Deutlich ist der Rückgang vor allem in Oberbayern.
Was passieren muss
Ein Ziel der Studie ist es, die Politik zum Handeln zu bewegen. Als wichtigen Impuls werten sowohl die Studienautoren als auch die Vereinigung der Pflegenden das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigte Pflegekompetenzgesetz. Es setzt auf neue Rollenprofile und mehr Eigenständigkeit. Verstehen müsse man aber auch, welche Bedeutung die Regionalität hat, betont Isfort. „Pflegende sind ortstreu.“ Er und seine Kollegen haben die Pendlerbewegungen tausender Pflegekräfte untersucht. „Deshalb wissen wir: Pflege muss dort qualifiziert und realisiert werden, wo sie erforderlich ist.“ Um den Beruf attraktiver zu machen, müssten Karrierewege aufgezeigt werden. Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) sieht es als wichtige Aufgabe der Zukunft, die Pflegekräfte langfristig im Beruf zu halten. Die Tariflohnbindung sei ein erster Schritt gewesen, sagt sie. Arbeitgeber müssten für individuell passende Arbeitszeitmodelle mit verlässlichen Freizeiten, Weiterbildungsmöglichkeiten und Angeboten zur Gesundheitsförderung sorgen.
Auch Michael Isfort sieht nicht nur die Politik in der Pflicht. Auch die Kommunen müssten neue Wege und Kooperationsmodelle erproben, um Mitarbeiter zu halten und die Zufriedenheit zu steigern. „An Lebensphasen angepasste Arbeitszeitmodelle sind realisierbar und wirken.“ Mitarbeitende müssten konsequent in den Blick gerückt werden. „Wertschöpfung entsteht durch Wertschätzung. Und dafür sind die Unternehmen selbst verantwortlich.“ KATRIN WOITSCH