von Redaktion

Die Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye hat vor Kurzem 106 Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet – darunter 45 Minderjährige. Die Einsätze werden für die Retter schwieriger, berichtet der Vorsitzende Gorden Isler. Trotzdem will die Sea-Eye dieses Jahr neun Missionen schaffen.

Sea-Eye rettet seit 2016 Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer. Wie hat sich die Situation seit damals verändert?

Die Abschottung ist rigoroser und brutaler geworden. Die EU-Staaten investieren viel mehr Geld in die Migrationsabwehr und nennen das Grenzschutz. Rettungskapazitäten wurden eher abgebaut. Die Abkommen mit Drittstaaten wie Libyen machen es immer gefährlicher, die Grenze zur EU zu überwinden. Und die Maßnahmen gegen Seenotrettungsorganisationen werden immer schärfer. Italien schreckt auch nicht vor Gesetzen zurück, die internationales Recht konterkarieren. So wurden Schiffe festgesetzt, weil sie mehrere Rettungen in den internationalen Gewässern durchführten. Das ist völkerrechtswidrig.

Und von deutscher Seite? Gibt es Unterstützung oder Gegenwind?

Beides. Unterstützung dahingehend, dass die Bundesregierung die Seenotrettung 2023 finanziell unterstützte. Sea-Eye hat 365 000 Euro bekommen. Ohne dieses Geld wäre mindestens eine Mission ausgefallen. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die Spenden stark zurückgegangen. Aber es gibt auch Gegenwind: Der erste Entwurf des Rückführungsverbesserungsgesetzes sah vor, dass Hilfsorganisationen und Besatzungen kriminalisiert werden könnten, wenn sie Menschen vor dem Ertrinken retten. Inzwischen wurde der Text geändert. Humanitäre Organisationen an Land sind aber weiter gefährdet. Das zeigt, dass es Politiker gibt, die humanitäre Arbeit verhindern wollen.

2023 war das tödlichste Jahr an den EU-Außengrenzen seit 2017. Über 2700 Menschen starben bei der Flucht. Wird das Menschen abschrecken?

Nie zuvor wurde so viel Geld in die europäische Grenzschutzagentur Frontex investiert, nie gab es eine so intensive Zusammenarbeit zwischen der EU und Libyen und Tunesien. Es wurde den Menschen noch nie so schwer gemacht, Europa sicher zu erreichen. Und trotzdem fliehen mehr Menschen – und viele von ihnen sterben bei dem Versuch. Man verspricht sich zwar davon, dass die Ankunftszahlen zurückgehen, wenn man die Migration erschwert – aber die steigenden Zahlen zeigen, dass das nicht funktioniert. Wie viel Geld will die EU noch vergeuden, wie viele müssen noch ertrinken, bis man eine humane Strategie versucht?

Können große Lager an den Außengrenzen eine Alternative sein?

Die Idee ist nicht neu. Wir alle kennen die Bilder von Moria. Die Zustände dort waren untragbar. Ich fürchte, dass das die Regel wird. Menschen, die Schutz suchen, sollen dort festgehalten werden dürfen, sogar Familien mit Kindern. Wenn das europäischer Standard wird, ist es eine entsetzliche Entwicklung und wir laden viel Schuld auf uns.

Die Debatte um Seenotrettung ist sehr emotional. Haben die Anfeindungen zugenommen?

Ja, extrem. Ich habe aber das Gefühl, dass das für viele Bereiche gilt, nicht nur beim Thema Migration. Vor anderthalb Jahren hätte keiner für möglich gehalten, dass Wärmepumpen die Gesellschaft so aufwühlen könnten. Die Gesellschaft spaltet sich immer mehr. Aber es ist für uns nicht schwieriger geworden, Unterstützer zu finden. Die Crews auf unseren Schiffen sind ein Querschnitt der Gesellschaft, Menschen aller Berufs- und Altersgruppen sind als Freiwillige an Bord.

Wie gehen Sie mit der Kritik um, Seenotretter würden das Geschäft der Schleuser ankurbeln?

Es gibt zahlreiche Studien namhafter Universitäten, die zeigen, dass es keinen Zusammenhang gibt. Es handelt sich um eine fatale Erzählung, die das Vertrauen in die Seenotrettung zerstören und Menschen davon abhalten soll uns zu unterstützen. Die Menschen fliehen nicht, weil unsere Schiffe auf dem Meer sind. Sie fliehen vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Sie fliehen vor den Taliban in Afghanistan, vor einem Diktator in Eritrea, vor Boko Haram in Nigeria, vor al-Shabab in Somalia und vor einem eskalierenden Krieg im Sudan, über den hierzulande kaum jemand spricht.

Das Thema Migration hat dazu geführt, dass europaweit Rechte auf dem Vormarsch sind. Hat Seenotrettung dazu beigetragen?

Nicht Migration führt zum Vormarsch der Rechten, sondern die Art und Weise wie politisch damit umgegangen wird. Das menschliche Verhalten, das wir Migration nennen, ist älter als jede Regierung der Welt. Es liegt in der menschlichen Natur sich auf dem Weg zu machen. Die Rechte ist auf dem Vormarsch, weil Regierungen an den wesentlichen Fragestellungen unserer Zeit scheitern. Das sind insbesondere sozialpolitische Fragen. Sea-Eye hat seit der Gründung in Regensburg rund 17 000 Menschenleben gerettet. Niemandem in Deutschland ginge es heute besser, wenn diese Menschen ertrunken wären. Die Seenotrettung einzustellen bedeutet, mehr Menschen im Mittelmeer sterben zu lassen, um andere von der Flucht in die EU abzuschrecken. Egal wie gefährlich Europa die Überquerung seiner Grenzen gestalten wird. Die Fluchtgründe wiegen schwerer und nehmen zu.

Interview: Katrin Woitsch

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