München/Griesen – Es hat vier Jahre gedauert, aber jetzt liegt ein Abschlussbericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) zu einem Beinahe-Zugunglück in Griesen (Kreis Garmisch-Partenkirchen) vor. Am 22. Januar 2020 war ein Zug der Werdenfelsbahn, der von Garmisch-Partenkirchen Richtung Reutte in Tirol unterwegs war, beinahe mit dem Gegenzug zusammengestoßen. Nur durch eine Schnellbremsung konnte der Lokführer auf der eingleisigen Strecke seinen knapp 60 km/h schnellen Zug stoppen und einen Frontalzusammenstoß verhindern – 20 Meter voneinander entfernt standen sich die Züge gegenüber. Ursache des Zwischenfalls sei ein „nicht vorschriftenkonform“ durchgeführtes Zugmeldeverfahren, schreibt die BEU. „Es ist hinreichend wahrscheinlich, dass eine Zugbegegnung … mit einer höheren Geschwindigkeit der Fahrten zu einer Zugkollision gefährt hätte.“ Nur mit viel Glück also blieben die insgesamt 60 Fahrgäste unverletzt.
Der 28 Seiten lange Unfallbericht, den die BEU nun vorgelegt hat, birgt ein überraschendes Ergebnis: Die Fahrdienstleiter in Griesen und Reutte haben Regeln für „eine sichere und zweifelsfreie Kommunikation“ außer Acht gelassen. Neben der Nicht-verwendung von Fachbegriffen monieren die Prüfer auch die „stark von regionalen Dialekt“ geprägte Kommunikation, die zu Missverständnissen führte. Die BEU mahnt in ihrem Bericht „die Einhaltung einer unbedingten Sprechdisziplin“ ein. Fast klingt es wie die Ermahnung eines Grundschülers, wenn die BEU schreibt: „Die Verwendung der deutschen Sprache sollte hierbei möglichst dialektfrei und langsam, deutlich und in normaler Lautstärke erfolgen.“ Der Dialekt-Sprech ist im BEU-Bericht sogar dokumentiert: „I hab mir jetzt grad mit der Leitstelle in Garmisch telefoniert das mor gar nix davo gewisst hän“, sagt der Reutter. „Mmh“, antwortet der Griesener. „Vielleicht das mer nen Dreiezwanzger in Griesen auf’n Zworezwangzer stupfen.“ Wieder kommt ein „Mmh“ als Antwort.
Noch dazu wollten die beiden Fahrdienstleiter die Sache wohl vertuschen. Sie wechselten von der üblichen Fernsprechleitung mit Tonbandaufzeichnung zum Privat-Telefon, wie das BEU moniert. „Äh … da steht der Zug vor eahm“, sagte der Griesener Fahrdienstleiter. „Ruf mi aufm Telefon an“, antwortet der Kollege aus Reutte. „Schreib dir a Nummer auf jetzt!“ Dann verständigen sich die beiden offenbar weiter auf ihren privaten Handys – ein klarer Regelverstoß. Einer von mehreren.
Der Vorfall am 22. Januar gegen 17 Uhr hatte eine Vorgeschichte. Kurz nachdem der Zug RB 5522 aus Garmisch-Partenkirchen um 16.04 Uhr losgefahren war, musste er durch eine Schnellbremsung gestoppt werden. Am Haltepunkt Untergrainau war ein Auto unter der Halbschranke durchgerauscht. Durch den Unfall hatte der Zug 25 Minuten Verspätung, der gewohnte Fahrplan geriet aus dem Takt. Das Problem näherte sich in Form des RB 5523, der in Reutte planmäßig um 16.01 Uhr losgefahren war. Statt am Bahnhof Ehrwald Zugspitzbahn sollten die Züge nun bei Griesen – auch dieser Bahnhof hat zwei Gleise – aneinander vorbeifahren. Doch darüber wurde der Garmischer Triebfahrzeugführer nicht informiert. Das war der entscheidende Fehler. Der Lokführer fuhr ohne Halt am Bedarfsbahnhof Griesen vorbei und bemerkte bei der Ausfahrt aus dem Haltepunkt, dass nicht weit entfernt der Zug aus Reutte an einem Signal wartete. Durch die Schnellbremsung kam der Zug 20 Meter vor Kollision zum Stehen.
Als sich die Fahrdienstleiter etwas ausgetauscht hatten, kamen sie offenbar zum Schluss, die Sache „ohne Einleiten der Notfallmeldekette“ (so die BEU) unter sich zu regeln. Sie wollten den Lokführer dazu animieren, seinen Zug bis zum Bahnhof Griesen zurückzusetzen – was nicht erlaubt ist. Anschließend hätte der Zug aus Reutte vorbeifahren können. Der Triebfahrzeugführer „verweigerte dies und informierte die disponierende Stelle“ über den Vorfall. „Du der hat die Leitstell … der hat den Notfallmanager angerufen … du eh“, sagt der Reutter Fahrdienstleiter. „Ja gut dann is eh vorbei“, murmelt der Griesener Kollege.
Mittlerweile hat die Bahn die Strecke offenbar technisch nachgerüstet. Es gibt eine neue „Technische Unterstützung für den Zugmeldebetrieb“, die in Griesen seit Juni 2023 in Betrieb ist. Auch eine Erneuerung der Stellwerkstechnik ist geplant für Oktober 2024.
Ob die beiden Fahrdienstleiter noch im Dienst sind, geht aus dem BEU-Bericht nicht hervor.