Sulzemoos – Dr. Hans-Georg Früchte, der 2011 im hohen Alter von 95 Jahren verstarb, ist vielen Sulzemoosern noch ein Begriff. Er war ein Arzt vom alten Schlag, unzählige Anekdoten kursieren. Er fuhr in der Nachkriegszeit werdende Mütter mit dem eigenen Auto zur Entbindung in die Klinik, war Tag und Nacht erreichbar und zog zur Not auch mal einen schmerzenden Zahn.
Wahrscheinlich nur wenige wussten, dass Dr. Früchte, geboren 1915 in Göttingen, im Zweiten Weltkrieg als Militärarzt an der russischen Front Juden das Leben rettete. Nun hat sich die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zur Ehrung entschlossen. Im Verlauf des Jahres – das Datum steht noch nicht fest – soll Dr. Früchte als „Righteous Among the Nations“ geehrt werden. Johannes Kneidl, Bürgermeister von Sulzemoos, der als Kind noch selbst von Dr. Früchte behandelt wurde, ist sehr stolz auf den einstigen Mitbürger. „Das ist eine tolle Sache, auch für die Gemeinde.“ Der Gemeinderat plant eine Gedenkstunde. Die eigentliche Auszeichnung mit Angehörigen organisiert die israelische Botschaft in Berlin. In Yad Vashem bei Jerusalem gibt es einen „Garten der Gerechten“ mit Marmorplatten, auf denen die Namen eingraviert sind. Es sind – Stand 2022 – 28 000 Helden, darunter nur 650 Deutsche. Einige sind regelrecht berühmt, etwa Oskar Schindler, die meisten aber einer breiten Öffentlichkeit ganz unbekannt.
Wie sich Dr. Früchte im Zweiten Weltkrieg auszeichnete, geht zum Beispiel aus einer Zeugenaussage hervor, die im Archiv des Münchner Instituts für Zeitgeschichte verwahrt wird. Am 21. Oktober 1947 sagte der aus Lemberg/Polen stammende ehemalige russische Kriegsgefangene Henrik Schächter (auch Schechter geschrieben) vor einem amerikanischen Vernehmer über Dr. Früchte aus. Schächter war im September 1941 nach einer Kessel-Schlacht in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, er kam in das Dulag (Durchgangslager) 160 bei Chorol in der heutigen Ukraine. Es unterstand der Wehrmacht, nicht der SS, war aber ein regelrechtes Todeslager. Schächter konnte zunächst verbergen, dass er Jude ist, bekam dann aber Fleckfieber und wurde ins Lazarett geschafft. „Dort habe ich Dr. Früchte kennengelernt. Der hat mit mir als Dolmetscher gesprochen und hat dann gemerkt, dass ich kein Russe war“, berichtete Schächter. Und weiter: „Da hatte ich hohes Fieber, und da habe ich ihm gesagt, dass ich kein Russe, sondern Jude bin. Von da an hat er mich die ganze Zeit gedeckt.“
In seiner Zeugenvernehmung beschrieb Schächter auch die Mordtaten, die der Kommandeur, ein Offizier namens Victor Lepple, im Lager anordnete. „Unter Lepples Kommando gab es täglich Gräueltaten gegenüber den jüdischen Gefangenen.“ Juden wurden aus dem Dulag ausgesondert und erschossen. Dr. Früchte habe protestiert, habe versucht, eine Frau aus der Gruppe derjenigen rauszubekommen, die zum Erschießen bestimmt waren. Auch zwei russische Ärzte, ebenfalls Juden, wollte Dr. Früchte retten. Schächter berichtete auch, dass er 1942 von Dr. Früchte „weggebracht“ worden sei – was er genau damit meint, geht aus der Zeugenaussage nicht hervor. Jedenfalls: Schächter überlebte. Nach Kriegsende 1945 konnte er Dr. Früchte in München besuchen – danach verliert sich seine Spur.
Dr. Früchte zog in der Nachkriegszeit nach Sulzemoos und eröffnete eine Praxis. Viele Jahre war er ein angesehener Mitbürger, aktiv im Obst- und Gartenbauverein, im Tierschutzverein und im Skiclub. Über die Grauen im Dulag 160 sprach er bis zu seinem Tod 2011 nicht.