München/Hannover – Die 880 Seiten, die ein Forscherteam gestern in Hannover der amtierenden Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs, übergeben hat, bergen Sprengstoff – dabei zeigen die Ergebnisse der Untersuchung über sexualisierte Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“. Studienleiter Martin Wazlawik betonte bei der Vorstellung der Studie, dass erst seit 2018 in der EKD sexualisierte Gewalt als Problem in der Kirche öffentlich thematisiert worden sei.
Dabei habe man oftmals auf den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche verwiesen mit dem Hinweis auf den dortigen Zölibat – die Probleme habe man ja nicht. Der schlechte Umgang mit Betroffenen ist laut Wazlawik häufig auch aus der Haltung heraus geschehen, dass die evangelische Kirche sich als die bessere verstanden habe. Er sprach von „Verantwortungsdiffusion“ und bescheinigte der evangelischen Kirche „Konfliktunfähigkeit“ und einen „Harmoniezwang“, die einer Aufklärung im Weg stünden.
„Das Narrativ, in der evangelischen Kirche gibt es weniger sexualisierte Gewalt als in der katholischen Kirche, lässt sich nicht mehr halten“, sagte Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbunds, der die Studie erstellt hat. In der Studie der katholischen Kirche, die 2018 vorgelegt wurde, waren 3677 Opfer und 1670 mutmaßliche Täter genannt worden. Kracht ist in den 1980er-Jahren von einem evangelischen Gemeindepfarrer missbraucht worden. Sie forderte verbindliche Standards für die Aufarbeitung – das müsse der Staat übernehmen: „Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung.“ Ihnen fehle die Kompetenz und „vermutlich auch das Interesse“, die Fälle wirklich aufzudecken. Trotz der genannten Mängel der Untersuchung warnte Kracht davor zu sagen, die Studie sei nichts wert. Über 100 Betroffene kämen dort zu Wort: „Das wäre so, als ob es unwichtig wäre, was wir erlebt haben.“ Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) rief beide Kirchen auf, sich für Aufklärung von Missbrauchsfällen, Wiedergutmachung und bessere Prävention einzusetzen. Weiter sagte er: „Kirchliche Aufarbeitung ist wichtig – aber sie ist kein Ersatz für staatliche Strafverfolgung, wo diese möglich ist.“
Der bayerische Landesbischof Christian Kopp unterstrich die Bedeutung der Risikoanalyse der Untersuchung – „die Perspektive der Betroffenen ist das Besondere an dieser Studie“. Er räumte ein, dass die Kirche das Ausmaß der zu prüfenden Akten falsch eingeschätzt habe. Allein die bayerische Landeskirche habe derzeit 30 000 Angestellte. 30 000 Personalakten jetzt – und das auf 100 Jahre gesehen, „da sprechen wir über eine hohe sechsstellige Zahl. Das hätten wir in dem Forschungszeitraum niemals durchschauen können. Das haben wir bei der Unterzeichnung des Vertrags für die Studie nicht auf dem Schirm gehabt.“ Allein für die Durchsicht der Disziplinarakten habe man schon Personal eingestellt. Er sehe nicht, dass dies einen Schatten auf die Studie werfe. „Das ist ein Punkt, den wir nicht mit dieser Studie geschafft haben und eine Herkulesaufgabe, die jetzt ansteht.“ Das Entscheidende sei, weiter daran zu arbeiten, die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen – dazu gebe die Studie Hinweise, was man besser machen könne. Die Landeskirche hat für die Studie 129 Beschuldigte und 226 Taten (von 1917 bis 2020) an die Forscher gemeldet. In den vergangenen drei Jahren gingen 95 Meldungen ein.