Traumatisiert zwischen Trümmern

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

Kaufering/Samandag – Die Tränen kommen schnell, in fast jedem Gespräch. Egal, mit wem Carola Gerhardinger spricht, sofort merkt sie, wie wenig die Wunden verheilt sind. Und wie groß die Angst noch immer ist. Nur ein Windstoß, der an einer Plane rüttelt, reicht, schon sieht sie die Panik in den Augen der Menschen. Ein Jahr ist vergangen, seit im Südosten der Türkei und im Nordwesten Syriens die Erde gebebt hat. Viel Schutt ist abtransportiert, viele Ruinen abgerissen – aber die Menschen haben das Erdbeben noch lange nicht hinter sich lassen können.

Zehntausende Menschen sind vor einem Jahr durch die Katastrophe gestorben oder schwer verletzt worden. Millionen haben ihr Zuhause verloren. Gerhardinger arbeitet für die Kauferinger Hilfsorganisation LandsAid. Schon im Februar 2023 waren die Ehrenamtlichen in den Katastrophengebieten. Seitdem ist die Hilfe nie abgebrochen. Noch immer gibt es viel zu tun, berichtet Gerhardinger, die gerade aus Samandag, einer Gemeinde in Hatay, zurückgekehrt ist. Vor allem psychologische Hilfe würde vor Ort noch viel mehr gebraucht werden. „Die Menschen, die alles verloren haben, sind schwer traumatisiert“, berichtet sie. Einige haben Eltern oder Kinder verloren – viele ihren gesamten Besitz. Noch immer leben Familien in provisorischen Zelten, für viele sind inzwischen Container-Areale entstanden, berichtet die 41-jährige Projektleiterin. LandsAid hat in Samandag 24 gut isolierte sowie mit Klimanlagen und Heizungen ausgestattete Wohncontainer aufgestellt. Ein Container dient als Trauma-Therapiezentrum. Dort kümmern sich Psychologen aus der Region um die Erdbebenopfer. Dass es Einheimische sind, sei nicht nur wegen der Sprache wichtig, erklärt Gerhardinger. Sondern auch wegen des kulturellen Hintergrunds. „Aber wir bräuchten viel mehr Unterstützung“, sagt die Kauferingerin. Sie hat während ihrer viertägigen Reise in der vergangenen Woche viele Familien besucht. Sie haben ihr Narben gezeigt – und ihr vom 6. Februar 2023 berichtet. „Ich habe eine Frau getroffen, die bei dem Beben zwölf Angehörige verloren hat“, erzählt sie. „Sie hat seit einem Jahr keine Nacht mehr durchgeschlafen, so tief sitzt die Angst vor neuen Beben.“ Eine andere Familie berichtete ihr unter Tränen, wie ihr Haus damals eingestürzt ist. Sie konnten sich alle ins Freie retten – doch der Vater starb ein paar Tage später an einem Herzinfarkt. „Ohne ihn ist die Familie hilflos.“

Über die Zukunft denken die Menschen nicht viel nach, berichtet Gerhardinger. Dafür kämpfen sie gerade noch viel zu sehr mit der Gegenwart. Einige waren über den Sommer in die Touristenorte gegangen, um dort zu arbeiten. Doch nun sind die meisten zurückgekehrt. Sie wollen auf ihrem Stück Land bleiben – denn für viele ist es das Einzige, was ihnen geblieben ist. „Einige haben jahrelang für ihr Haus oder ihr Auto gearbeitet, jetzt ist alles weg“, sagt Gerhardinger. Die Türkei habe zwar angeboten, Häuser wieder aufzubauen und sich an den Kosten zur Hälfte zu beteiligen. „Aber kaum jemand kann die andere Hälfte aufbringen.“ Die Menschen haben Angst, durch die Schulden enteignet zu werden und ihr Land auch noch zu verlieren. Deshalb bleiben sie lieber in den Containern. „Das Misstrauen gegen die Regierung ist spürbar groß“, sagt Gerhardinger.

LandsAid versucht nach wie vor, Spenden für die Erdbebenopfer zu sammeln (Spendenkonto DE66 7005 2060  0000 0140 01). Doch die Spendenbereitschaft habe deutlich nachgelassen, berichtet die Projektleiterin. Auch wegen der vielen anderen Krisen auf der Welt. Trotzdem ist die Hilfe nie abgerissen. Die kleine Kauferinger Hilfsorganisation arbeitet eng mit den Helfern vor Ort zusammen. Ihr ist es gelungen, in neun Projekten Hilfe für mehr als 100 000 Menschen in der Türkei und für 4000 Menschen in Syrien zu leisten, berichtet die Vorstandsvorsitzende Gaby Breuckmann. „Wir unterstützen die Menschen mit Nahrungsmitteln, sauberem Trinkwasser, Hygieneartikeln und Unterkünften, Schulmaterial sowie psychologischer Hilfe.“ Damit möchte LandsAid auch weitermachen. Breuckmann ist überzeugt: „Der Wiederaufbau wird noch viele Jahre dauern.“

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