Vor knapp zwei Jahren begann der russisch-ukrainische Krieg. Ich bin erleichtert, dass meine Eltern bisher nicht verletzt wurden. Aber sie sind ständigem Stress ausgesetzt. Häufig versorgen sie das Haus mit Strom aus einem Generator. Luftalarme gibt es etwa dreimal täglich. Die Ausgangssperre schränkt die Bewegungsfreiheit ein. Mehr als einmal haben sie russische Raketen über sich hinwegfliegen sehen, und die Explosionen in der Ferne haben sogar Putz von der Decke unseres Hauses bröckeln lassen. Trotz all dem hatten meine Eltern großes Glück. Sie mussten den provisorischen Bunker in der Reparaturgrube der Garage noch nie nutzen.
Mein Cousin hatte jedoch weniger Glück. Kürzlich wurde er von Militärkommissaren auf dem Weg zur Arbeit an einer Bushaltestelle abgefangen. Er ist 47 Jahre alt und arbeitete als Wachmann in einer Saftkonservenfabrik in unserer kleinen Stadt. Sofort wurde er zum Wehrmeldeamt gebracht, ärztlich untersucht und für tauglich erklärt. Ohne die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, wurde er in eine größere Stadt transportiert, wo er medizinisch untersucht wurde. Danach wurde er der Infanterie zugeteilt und zur Ausbildung in eine andere Region geschickt. Der in seiner Jugend diagnostizierte Herzfehler wurde bei der ärztlichen Untersuchung nicht bestätigt. Zu Hause blieb sein 19-jähriger Sohn, von dem er sich nicht einmal verabschieden durfte. So stellte sich das Leben meiner Cousine innerhalb von zwei Tagen auf den Kopf. Mein Cousin ruft meine Mutter jeden Tag an. Derzeit hat er eine schlimme Erkältung, drei andere Männer in seiner Einheit leiden bereits an einer Lungenentzündung. Doch all das wird nicht als Krankheit betrachtet. Am schwersten zu ertragen sind für ihn nächtliche Luftangriffe. Dann erschallt der Befehl durch seine Kaserne: „Raustreten und ausschwärmen!“ Stundenlang steht er nachts regungslos im kalten Wald und wartet darauf, dass der Alarm endet.
Am 31. Januar wurde ich 29 Jahre alt und mein Vater am selben Tag 60. Das bedeutet, dass er nun Rentner ist und nicht mehr eingezogen werden kann. Vielleicht wird er im Sommer nach Bayern kommen, um mich zu besuchen. In der Zwischenzeit setze ich alles daran, auch in Zukunft das Recht zu haben, in Deutschland zu leben. Ich habe den Einbürgerungstest bestanden und das Zertifikat C1 des Goethe-Instituts erhalten. Ich besuche regelmäßig Theater und Ausstellungen. Jeden Tag lerne ich Neues und entwickle mich weiter. Mein Herz ist nach wie vor voller Dankbarkeit. Doch zu dem Glück hier gehören auch Schuldgefühle und Ängste.