Vizechefin der „Süddeutschen“ vermisst

von Redaktion

VON DIRK WALTER UND JOHANNES WELTE

München – Am Donnerstagmorgen um 4.33 Uhr ging bei Stefan Weber eine E-Mail von Alexandra Föderl-Schmid ein. „Ich habe viel über Medien, Mechanismen, Menschen und Geschäfte gelernt“, hieß es dort. Und weiter: „Zumindest diese Jagd ist vorbei.“

Stefan Weber betreibt in Salzburg ein Büro für Plagiats-, Titel- und Gutachtenprüfung. Föderl-Schmid war ein Prüffall. Die E-Mail der Journalistin, die er persönlich nie getroffen hat, hat er gestern Vormittag auf dem Portal „X“ veröffentlicht. „Ich bin gespannt, was ,vorbei‘ ist und wer hier genau wen ,jagt‘“, schrieb er dazu. Das klang spöttisch. Er habe ja nicht ahnen können, welche Entwicklung der Fall nehmen würde, sagt Weber später am Tag unserer Zeitung.

Seit gestern wird Alexandra Föderl-Schmid nach Informationen unserer Zeitung vermisst. Nahe einer BP-Tankstelle bei Braunau am Inn ist der blaue Mercedes der Redakteurin entdeckt worden. In der „SZ“-Redaktion herrscht Bestürzung und Sorge. Offiziell will sich der Süddeutsche Verlag nicht äußern. Ein Sprecher sagt nur so viel: „Wir bitten um Verständnis, dass wir uns aus Rücksicht auf Alexandra Förderl-Schmid und ihre Familie nicht äußern.“ Die Polizei bestätigte, dass es eine „Vermisstensuche nach einer Dame“ auf beiden Seiten des 6 Grad kalten Grenzflusses gegeben habe. Es bestehe „eine Suizidmöglichkeit“. Laut „Mediengruppe Bayern“ sollen Gegenstände der Journalistin im Wasser gefunden worden sein, Zeugen hätten eine Frau im Wasser gesehen. Auch von einem Abschiedsbrief ist die Rede. Die Suche wurde gegen Mittag abgebrochen. Ergebnislos.

Weber ist Plagiate-Gutachter, manche nennen ihn „Plagiatejäger“, und an der „Jagd“, die die SZ-Journalistin erwähnte, nicht unmaßgeblich beteiligt. Er sieht es aber nicht als Jagd, sondern als professionelle Forschungsarbeit. Er hatte damit begonnen, die Diplomarbeit und die Dissertation Föderl-Schmids auf Plagiate zu untersuchen. Die Arbeiten stammen aus den Jahren 1993 und 1996.

Den Auftrag zu seiner Untersuchung erhielt Weber von dem Nachrichtenportal „Nius“, das der ehemalige „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt leitet. Er habe selbst bei „Nius“ nachgefragt, ob er dafür Geld bekommen könne – eine niedrige vierstellige Summe, wie Weber unserer Zeitung sagt. Dass „Nius“ als rechtspopulistisch gilt, stört ihn nicht. „Das war mir in dieser Frage egal.“

Stefan Weber hatte noch mehr vor: Mit einem Team wollte er alle Artikel der Journalistin untersuchen, circa 7000 Artikel aus der österreichischen Zeitung „Der Standard“, wo die Journalistin früher arbeitete, und über 400 Artikel aus der „SZ“. Bisher habe er „nur eine Stichprobe“ genommen, sagt Weber. Aber erste Ergebnisse, veröffentlicht am Mittwoch, reichten, um auf „X“ eine Empörungswelle in Gang zu setzen. „Linke Märchentante“, schrieb ein Anonymus über Föderl-Schmid. „Betrügerin“ ein Zweiter. In Österreich ist der Fall ein Politikum: Die Zeitschrift „Falter“ witterte eine Jagd auf linke Journalisten, bezahlt vom rechten Portal „Nius“. „Die enthemmte Art und Weise“, wie Reichelt „seine skrupellose Kampagne gegen Alexandra Föderl-Schmid fährt, widert mich besonders an“, schrieb ein „Spiegel“-Journalist. Zuletzt hatte sich Föderl-Schmid aus dem operativen Tagesgeschäft zurückgezogen.

Die Geschichte – die „Jagd“, wie es Föderl-Schmid bezeichnete – beginnt nicht bei Weber in Salzburg. Sie beginnt bei „Medieninsider“ in Berlin. Am 18. Dezember vergangenen Jahres berichtet das Online-Journal unter der Überschrift „Schreibt die Vize-Chefin der Süddeutschen ohne Kennzeichnung ab?“ über Auffälligkeiten. In Veröffentlichungen der Journalistin, so heißt es dort, gebe es „Teile, die auch in Texten und Artikeln vorkommen, die weder von ihr selbst noch von der Süddeutschen Zeitung stammen“.

Föderl-Schmid schrieb viel über Nahost und vor allem Israel, sie war dort bis 2020 Korrespondentin der „SZ“. Nun gibt es aber zum Beispiel Hinweise, dass sie aus einem 2017 veröffentlichten Islamismusdossier der Bundeszentrale für politische Bildung Passagen in ihre Artikel kopiert haben soll – ohne dass für die Leser kenntlich zu machen. Auch Textstellen aus Beiträgen des „Spiegel“, der „Welt“ und des „Deutschlandfunks“ soll sie übernommen haben. Gegenüber einer Fachzeitschrift räumte Föderl-Schmid ein, sie habe „möglicherweise zu viel wörtlich übernommen“. Da hatte auch Stefan Weber mit seiner Forschung begonnen.

In der SZ-Redaktion war man alarmiert – nicht nur über einen möglichen Plagiate-Fall, sondern auch darüber, dass die im „Medieninsider“ ausgebreiteten Informationen wohl aus der SZ-Redaktion stammten. Ein Maulwurf in der Redaktion also. Die Chefredaktion machte sich auf die Suche, ließ in einer umstrittenen Aktion technische Daten zu E-Mail- und Telefon-Verbindungen ihrer Redakteure überprüfen. Als das in einer weiteren Redaktionsversammlung besprochen worden, stand es prompt wieder im „Medieninsider“.

Plagiate-Gutachter Stefan Weber ist bestürzt, welche Wendung der Fall nun genommen hat. Eine Vernichtung der Person sei nie Ziel der Prüfungen, betont er. „Ich habe an Plagiaten ein wissenschaftliches Interesse.“

Auch die „SZ“ hat eine dreiköpfige Kommission unter Führung des früheren „Spiegel“-Chefs Steffen Klusmann eingesetzt, um den Vorwürfen nachzugehen. Aber sie hatte mit der Arbeit noch gar nicht begonnen.

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